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Robin DiAngelo: Wir müssen über Rassismus sprechen: Was es bedeutet, in unserer Gesellschaft weiß zu sein

30.11.2022
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Autorenprofil
Prof. Dr. Rainer Lisowski
Hamburg, Hoffmann und Campe 2020

Robin DiAngelo konstatiert, dass weiße Menschen sich – wenn nicht als Rasse, so doch oft irrigerweise – als den Normalzustand der gesamten Menschheit begriffen. Auch kritisiert sie den Individualismus und die Meritokratie in der US-amerikanischen Gesellschaft aufgrund eines somit inhärent bestehenden und von vielen ausgeblendeten Klassismus. Ihre streitbaren Thesen zielten darauf, Umstände zu bessern sowie Phänomenen wie Rassismus und White Supremacy entgegenzuwirken, so Rainer Lisowski. Ob ihr Ansatz der harten Antagonismen aber diskursiv gangbar erscheint, sieht er kritisch. (tt)


Eine Rezension von Rainer Lisowski

Der Koalitionsvertrag der Ampelkoalition sieht vor, das Wort „Rasse“ aus dem Grundgesetz zu streichen (Artikel 3 (3): Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.) – ein Vorhaben, das bereits die Große Koalition in der zurückliegenden Wahlperiode verfolgt hatte, dann aber nicht mehr umsetzte. Schon beim letzten Anlauf gab es eine lebhafte Debatte über Sinn und Unsinn dieser Idee. In jedem Fall hat die Diskussion gezeigt, dass vielen Deutschen unwohl bei der Verwendung des Wortes „Rasse“ ist. Und damit wären wir bei der Publikation „Wir müssen über Rassismus sprechen“ der US-amerikanischen Pädagogik-Professorin Robin DiAngelo. Ihr 2020 auf Deutsch erschienenes Buch trägt im englischen Original von 2017 den Titel „White Fragility“ – und mit dieser Wortschöpfung ist sie in der einschlägigen Literatur bekannt geworden. Über Wochen konnte sich der Titel in den Top Ten der New-York-Times-Bestsellerliste halten; er wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

DiAngelo unterteilt das gut zweihundert Seiten starke Buch in zwölf Kapitel. Zunächst entwickelt sie den Gedanken, dass weißen Menschen grundsätzlich unwohl wäre, wenn sie über ihr Weißsein sprechen müssten (Kapitel 1). Weiße Menschen würden ihre Hautfarbe nicht nur ausblenden – sie seien davon überzeugt, gar keine zu haben. Eben darin will DiAngelo erkennen, dass Weiße ihre Hautfarbe als den universellen Normalfall ansähen und aus genau diesem Grund eine andere Pigmentierung nicht als solche wahrnähmen –, sondern als Abweichung von der Norm. DiAngelo: „Weißsein beruht auf einer Grundprämisse: Es definiert Weiße als menschliche Norm oder Standard und Menschen of Color als die Abweichung von dieser Norm.“ (57) Hierin verstecke sich „White Supremacy“ (Kapitel 2) und darum seien letztlich gut gemeinte Versuche wie die Bürgerrechtsbewegung gescheitert (Kapitel 3). Ein paar gedankliche Schritte und Kapitel weiter legt sie ihre zentrale These vor: Da die Weißen es nicht gewohnt seien, daran erinnert zu werden, nur eine von vielen Rassen auf der Welt zu sein und zudem irrigerweise ihre eigene Hautfarbe als Normalfall ansehen, sei das Ergebnis weiße Fragilität (Kapitel 8). Eine nicht eingestandene Zerbrechlichkeit, Unsicherheit treibe weiße Menschen dazu, wie kollektive und Narzissten immer wieder von sich selbst zu reden und über sich nachzudenken, anstatt den Stimmen der anderen zu lauschen und sich selbst zurückzunehmen. Was die irrwitzig anmutende Idee praktisch bedeuten kann, konnte man gut erkennen, als die US-Professorin Uju Anya angesichts des Todes der britischen Königin Elizabeth II. dieser über Twitter einen äußerst schmerzvollen Tod wünschte: Weil sie meinte, dass weiße Menschen nur sich selbst sehen und deshalb etwa die Geschichte des britischen Rassismus in Afrika gerne ausblenden würden.

Genau an dieser Stelle sind wir schon bei dem zentralen Problem des Buches angelangt: einem – gelinde gesprochen – äußerst schwierigen Menschen- und Weltbild. Um die Kritik an DiAngelo zu verdeutlichen, wollen wir die sechs zentralen Ideen des Buches zusammenfassen.

Robin DiAngelo ist Vertreterin eines pessimistischen Determinismus: Sie glaubt, Gesellschaft stets und grundsätzlich durch das Spektrum der Hautfarbe/Rassenfrage betrachten zu müssen, da diese alle gesellschaftliche Erfahrung determiniere. „Ich wurde in eine Kultur hineingeboren, der ich von meiner ‚Rasse‘ her angehöre. Die Kräfte des Rassismus prägten mich sogar schon vor meinem ersten Atemzug.“ (88) Das gesellschaftliche Konstrukt Rasse präge von der Geburt an und determiniere alle Kultur. Aus „seiner/ihrer“ Kultur kann bei der Autorin im Grunde niemand ausbrechen. „Eine rassismusfreie Erziehung ist unmöglich, weil Rassismus ein in Kultur und Institutionen verankertes Gesellschaftssystem ist.“ (127) Und es gibt ihr zufolge nicht nur kein Entrinnen, sondern jeder weiße Mann und jede weiße Frau seien im Grunde Kollaborateure eines unterdrückerischen Systems, ob man will oder nicht: „Aber eine positive weiße Identität ist etwas Unmögliches. Weiße Identität ist inhärent rassistisch. Es gibt keine weißen Menschen außerhalb des Systems weißer Suprematie.“ (203)

Zweite These: Dieses System weißer Suprematie sei ein System mit stets eingebautem Rassismus. Weiße weltweit betrachteten Weißsein nicht als Rasse, sondern fälschlich als „Normalzustand“ der gesamten Menschheit. Rassismus sei überhaupt keine Frage von gutem oder bösem Verhalten individueller Menschen, sondern bei weißen Menschen – und nur dort – systemisch. Nicht-weiße Menschen könnten zwar Vorurteile haben, sie könnten aber niemals rassistisch sein, da Rassismus als System unweigerlich mit der Machtfrage verbunden wäre. Und da sich nur Weiße global und in westlichen Gesellschaften in Machpositionen befänden, könnten Nicht-Weiße automatisch niemals rassistisch sein (51-53).

Aus diesem Gedanken entwickelt sie zum Dritten die Idee einer notwendigen Abkehr von liberalen Idealen. Kinder „farbenblind“ erziehen zu wollen, wie etwa Martin Luther King es in seiner „I have a Dream“-Rede andeutete, sei nicht nur vergeblich. Sie seien nichts anderes als eine Kaschierung des systemischen Rassismus, ja sie seien selbst rassistisch. Denn wer den systemischen Rassismus nicht anerkenne, wäre laut DiAngelo ein Rassist (76-79).

Opferideologie als vierte These: Durch den expliziten Bezug zur Theorie der Mikroaggressionen von Derald Wing Sue übernimmt sie den Kerngedanken, dass das „Opfer“ im Grunde stets Recht habe. Die Gefühle der Opfer seien bedingungslos zu akzeptieren, denn nur das Opfer habe das Recht, eine Situation zu definieren. Und während schon Sue mit seiner Mikroaggressionstheorie weit über das Ziel hinausschießt, springt DiAngelo beherzt noch einen Schritt weiter, indem sie Empathie in Diskriminierung umdeutet. Im Kapitel „Die Tränen weißer Frauen“ definiert sie Beileidsbekundungen weißer Frauen, etwa bei der Ermordung schwarzer Teenagerinnen und Teenager, in einen Akt der Aggression um, mit dem die selbstmitleidigen Weißen letztlich doch wieder nur sich selbst sehen wollten (181 ff.).

Nicht überraschend knüpft DiAngelo fünftens bei einem Rousseau‘schen Gleichheitsideal an – und folgert daraus, dass die herrschenden Ideen unserer Zeit diskriminierend seien und das rassistische System aufrechterhielten: „Zu diesen [die Rassenhierarchie aufrechterhaltenden, Anmerkung durch den Rezensenten] Kräften gehören die Ideologie des Individualismus und der Meritokratie.“ (35) 

Wiederholt wird sechstens der zivilisatorische Pessimismus von DiAngelo überdeutlich. Es gibt kaum ein Entrinnen aus diesem System. Es gibt kaum eine Aussicht auf Besserung. Und Hoffnung sei nicht in Sicht: „Häufig werde ich gefragt, ob die jüngere Generation meiner Ansicht nach weniger rassistisch sei. Nein, das glaube ich nicht. In gewisser Weise sind die Abwandlungen, die der Rassismus im Laufe der Zeit erfahren hat, schlimmer als konkrete Regeln wie die Jim-Crow-Gesetze (die die Rassentrennung festschrieben).“ (87)

Die Radikalität, Kompromisslosigkeit und Unversöhnlichkeit, mit der DiAngelo ans Werk geht, sind mitunter atemberaubend. Ebenso wie ihr Menschenbild, das von der Prämisse auszugehen scheint, dass Menschen vollkommen empathielose Wesen sind, denen das Schicksal anderer Menschen mit Blick auf die eigenen Vorteile vollkommen egal ist. So kann man denken. Man muss es aber nicht. Und man sollte es auch nicht. Zumal keineswegs ersichtlich ist, wie ihre Ideen Frieden und Versöhnung bringen sollen. 

Gleichwohl es sich um ein sehr problematisches Buch handelt, bleibt ein wichtiger Gedanke: Robin DiAngelo hat nicht vollkommen Unrecht mit der Idee, dass Menschen heller Hautfarbe dazu neigen, über diese wenig nachzudenken. Spricht jemand von einer „weißen Rasse“ wird den Meisten in der Tat unwohl. Allerdings darf man dabei für den deutschen Fall auch nicht außer Acht lassen, wie stark das Wort Rasse durch den Rassenwahn der Nationalsozialisten diskreditiert worden ist, während andere Länder den Terminus unbefangener verwenden. Und last not least darf nicht aus dem Blick geraten, dass Robin DiAngelo ein ehrenwertes Ziel verfolgt. Ihr Ziel ist es, die US-amerikanische Gesellschaft besser zu machen. Frei von Rassismus. Dass dort wie auch hier viel zu tun ist, zeigen zahlreiche empirisch belegbare Fakten. Der Weg indes, den DiAngelo vorschlägt, ist bei Licht betrachtet kein gangbarer.

CC-BY-NC-SA
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Externe Veröffentlichungen

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Deutschlandfunk Kultur

 

 

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