Demokratie und Frieden

Strukturwandel der Gesellschaft.
Zwischen Klimakrise und Digitalisierung

Die Politikwissenschaft fragt nicht nur normativ danach, wie Macht, Strukturen oder Gemeinwesen ideal ausgestaltet sein sollten. Sie schaut auch darauf, was sich verändert und was neu entsteht. Sie untersucht, welche dieser Ereignisse und Entwicklungen die Architektonik heutiger politischer Systeme verändern, diese gegebenenfalls sogar disruptieren, und wie die Systemstabilität erhalten, beziehungsweise wiederhergestellt werden kann. So wirken Kriege, Pandemien, Wirtschafts- und Finanzkrisen, demografischer oder klimatischer Wandel, Energieknappheit und Technologiesprünge in erheblicher Weise auf Gesellschaften, Volkswirtschaften und überstaatliche Integrationsprojekte (wie die Europäische Union) ein. Die Politikwissenschaft fragt unter Rückgriff empirisch erhobener Daten nach den globalen, regionalen und lokalen Effekten dieser Einflussfaktoren. Dies ermöglicht es, die Veränderungen zu eruieren, um aus den Datensätzen konkrete Fragestellungen, Hypothesen und praxisrelevante Handlungsempfehlungen im Umgang mit dem strukturellem Wandel abzuleiten.

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Der Arbeitsmarkt und die Steuersysteme, wichtige soziale Garantien wie Rentensicherheit, aber auch Kranken- und Pflegeversicherung, stehen in modernen Gesellschaften somit vor großen Herausforderungen, die etwa durch die Überalterung von Bevölkerung und Infrastruktur, nicht zeitgemäße Bildungssysteme und den Arbeits- und Fachkräftemangel verursacht werden. Gewalttätige Konflikte, Staatszerfall, immense Ungleichheit und Fluchtbewegungen gefährden weltweit die Prosperität von Volkswirtschaften. Die Klimakatastrophe schreitet währenddessen voran und droht, Menschen ihrer Lebensgrundlage zu berauben – das verdeutlichen Dürresommer, Hochwasserkatastrophen, schwindende Landmassen sowie Trinkwasserknappheit. Die Abkehr von der Versorgung mit fossilen Energieträgern in etlichen Teilen der Welt wirft Fragen nach Energieerzeugung, -transport und -speicherung sowie des Umgangs mit Hochrisikotechnologien, wie zum Beispiel Fracking oder Atomenergie, auf und wird indes von Politologen an der Schnittstelle von Gesellschaft, Technik und Politik analysiert.

Große Hoffnungen bei der Bewältigung dieser, wie vieler anderer, Herausforderungen liegen auf technologischen Entwicklungen, insbesondere der allgegenwärtigen Digitalisierung – und das trotz des damit verbundenen enormen Energiehungers. Daneben verursacht die digitale Revolution längst weitere Probleme. Zu denen gehören unter anderem die Möglichkeit der großflächigen digitalen Überwachung, die Rückkehr zu Protektionismus und Nationalismus, siehe die Great Firewall of China, und das digitale Wettrüsten von Staaten im Cyberraum oder die Unterbrechung von internationalen Wertschöpfungsketten und Handelskriegen, wenn staatliche Cyberangriffe ihre Wirkung entfalten. Auf die euphorischen Gründerjahre des Internets ist in westlichen Demokratien die Oligarchisierung von Marktmacht in Schlüsselbereichen wie Social Media, Onlinehandel, Suchmaschinentechnologie, Zahlungsabwicklung und Messenger-Diensten durch Mark Zuckerberg, Elon Musk, Jeff Bezos und Co. gefolgt. Hier kollidieren konträre Freiheitsvorstellungen in einer Größenordnung miteinander, dass Big-Data, Data-Mining und Datenschutz auch die Reglementierungsorgane der EU beschäftigen.

Die Digitalisierung, somit selbst auch ein Problemverursacher, kann daher als Werkzeug zur Lösung anderer struktureller Herausforderungen für Gesellschaften in der sozialwissenschaftlichen Forschung nicht ohne Blick auf ihre Transparenz, ihre Effekte und Strategien betrachtet werden: Dies zeigen neben Datenskandalen auch Beispiele aus der US-amerikanischen Antidiskriminierungsrechtsprechung, wo Bewerber*innen bestimmter Bevölkerungsgruppen im Rahmen einer, von Algorithmen gestützten, Vorauswahl automatisiert von der weiteren Teilnahme am Bewerbungsverfahren ausgeschlossen wurden. Die strukturellen Auswirkungen solcher und kommender Entwicklungen auf den Alltag der Menschen sind auf zwischenmenschlicher, nationaler und internationaler Ebene spürbar. Sie stellen, ob nun als akut oder schleichend wahrgenommene Veränderungen, die maßgeblichen neuen Systemvoraussetzungen der politischen Systeme der Gegenwart dar.

Wie unter diesen Vorzeichen Errungenschaften wie Demokratie, Sozialstaatlichkeit, multilaterale Zusammenarbeit, Handelsliberalisierung oder Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat hiervon beeinflusst und erhalten werden können, stellt in der Praxis den Kern vieler damit verbundener strategischer Fragen der Zukunftsgestaltung dar. Mit ihren praxisorientierten Untersuchungen kann die Politikwissenschaft einen Beitrag leisten, um gesellschaftliche Herausforderungen fortlaufend zu identifizieren und zu bearbeiten.

Rezension / Rainer Lisowski / 23.05.2023

Stefan Schulz: Die Alten-Republik. Wie der demographische Wandel unsere Zukunft gefährdet

Hamburg, Hoffmann und Campe 2022
Deutschland ist demografisch das zweitälteste Land weltweit. Dieses Problem sei noch nicht im notwendigen Maße im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit angekommen, obwohl bereits Effekte für das Wirtschafts- und Sozialsystem spürbar sind. Stefan Schulz beginnt sein Buch daher mit der beherzten Aussage „Wir werden also lernen müssen zu schrumpfen“. Leider gelinge es ihm in der Folge ni...
Rezension / Thomas Mirbach / 26.04.2023

Florian Grotz: Neue Welt – andere Politik? Politikwissenschaftliche Vermessungsversuche

Baden-Baden, Nomos 2022
Dieses Buch entstand im Nachgang zur 2021 stattgefunden 38. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (DGfP). Fokus waren die Effekte multipler Krisen, die die Rahmenbedingungen politischen Handelns in der letzten Dekade nachhaltig umformten, darunter digitale Transformation, Klimawandel, Autoritarismus, Populismus und die Krise des Multilateralismus. Thomas Mirbach folgert ...
Rezension / Tamara Ehs / 04.04.2023

Giulio Boccaletti: Water. A Biography

New York, Pantheon Books 2021
Welche Rolle spielte Wasser bei der Begründung von Gemeinwesen? Giulio Boccaletti fokussiert auf die Republik als Staatsform, in der Individualinteressen und kollektives Handeln ideal zusammenwirkten. Sein Buch sei weniger eine wissenschaftliche Abhandlung als vielmehr eine Erzählung über das Römische Reich, China und den Kapitalismus , so unsere Rezensentin Tamara Ehs: Begründet „auf der g...
Rezension / Max Lüggert / 16.11.2022

Karin Fischer / Margarete Grandner (Hrsg.): Globale Ungleichheit. Über Zusammenhänge von Kolonialismus, Arbeitsverhältnissen und Naturverbrauch

Wien, Mandelbaum Verlag 2019
Die Autor*innen untersuchen hier facettenreich die Strukturen und Formen globaler Ungleichheit, so Max Lüggert in seiner Rezension: Konkret umfasse dies Fragen von Einkommen und Vermögen, Lebenschancen und Wiedergutmachung sowie ihre Relation zu internationaler Arbeitsteilung, Finanzmarktkapitalismus und Rassismus. Dabei erschöpfe sich die Kapitalismus- und Kolonialismuskritik nicht in redliche...
Rezension / Max Lüggert / 03.11.2022

Alexander von Pechmann: Die Eigentumsfrage im 21. Jahrhundert. Ein rechtsphilosophischer Traktat über die Zukunft der Menschheit

Bielefeld, transcript Verlag 2021
Alexander von Pechmann dekonstruiert unsere modernen Eigentumsordnungen, ihre Genese, ihre Rechtfertigungsstrategien und ihre Effekte. Dabei fragt der Philosoph insbesondere nach den Konsequenzen eines Status quo in der Eigentumsfrage, während sich die Welt global ökologisch wie demografisch rasant verändere. Er skizziert dabei Herausforderungen und Lösungsansätze. Die Analyse, so Max Lügger...
Rezension / Thomas Mirbach / 16.05.2022

Werner Rätz / Dagmar Paternoga / Jörg Reiners / Gernot Reipen (Hrsg.): Digitalisierung? Grundeinkommen!

Wien, Mandelbaum 2019
Das Grundeinkommen wird längst nicht mehr als rein einkommensbezogenes Instrument betrachtet. Das Spektrum der Grundeinkommensbewegung, vorliegend durch unterschiedliche Beiträge von zu Wort kommenden Wissenschaftler*innen, Parteivertreter*innen und Aktivist*innen repräsentiert, sieht darin einen Baustein zur umfassenden Stärkung der Gemeinwohlökonomie. Für Thomas Mirbach ist dies ein Zeiche...
Rezension / Thomas Mirbach / 28.03.2022

Branko Milanović: Kapitalismus global. Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht

Berlin, Suhrkamp 2020
Branko Milanović hat nach Meinung von Thomas Mirbach mit seiner Studie „Kapitalismus global“ einen wichtigen Beitrag zur Untersuchung globaler post-demokratischer Tendenzen vorgelegt. Vor allem seine empirischen Analysen des Zusammenwirkens kapitalismusspezifischer Strukturentwicklungen – wachsende Einkommensungleichheiten, Abkoppelungen von Eliten, steigende Korruption – seien von Releva...
Rezension / Florian Geisler / 14.02.2022

Giorgos Kallis: Grenzen. Warum Malthus falschlag und warum uns das alle angeht

Berlin, Matthes & Seitz Verlagsgesellschaft 2021
Florian Geisler sinniert in seiner Lesenotiz zu Giorgos Kallis „Grenzen. Warum Malthus falschlag und warum uns das alle angeht“ darüber, wie ideengeschichtliche Prägung und das Fehlen von Begriffen dieser Tage die versachlichte Debatte um Selbstbeschränkung behindert, wo selbst die grüne Bewegung Malthus' Knappheitsmodell rezitiert. So misslinge dem als elitären Spielverderber wahrgenomme...
Rezension / Rainer Lisowski / 02.02.2022

Martin Schoeller / Daniel Schönwitz: Afrika first! Die Agenda für unsere gemeinsame Zukunft

Berlin, Verlag Berg & Feierabend 2020
Rezensent Rainer Lisowski hält das Buch „Afrika First“ für eine Herausforderung, über die Zukunft des Kontinents nachzudenken, für einen Wettstreit um gute Ideen, die Afrika in ein besseres Morgen führen könnten. Zunächst benennen Martin Schoeller und Daniel Schönwitz die Probleme des Kontinents, etwa das intensive Bevölkerungswachstum oder den Mangel an Infrastrukturen, die die wirts...
Rezension / Alfred Pfaller / 20.12.2021

Hans-Jürgen Burchardt: Das Pandemische Manifest. Neun Schritte in eine zukunftsfähige Gesellschaft

München, Oekom 2021
In seinem Pandemischen Manifest?“ entwickelt Hans-Jürgen Burchardt "die Grundzüge einer menschen- und umweltfreundlicheren Gesellschaftsordnung?“, die, wie Rezensent Alfred Pfaller hervorhebt, nicht auf eine ferne Zukunft abzielten, sondern dazu gedacht seien, ein unmittelbar in Angriff zu nehmendes Transformationsprogramm?“ anzustoßen. Ebenso betont Pfaller Burchardts Überzeugung, dass ...

Strukturwandel der Gesellschaft: von der Klimakrise bis zur digitalisierten Welt


Veröffentlichungen


Studie / Philip Sterchele et al. / 12.11.2021

Wege zu einem klimaneutralen Energiesystem. Update Klimaneutralität 2045 zur Studie

Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE

Vier Szenarien zum klimaneutralen Energiesystem bis 2045.


Forschungseinrichtungen und Think Tanks


Digital Society Institute (DSI)

Forschungs- und Projektarbeit rund um Technik und Gesellschaft mit Augenmerk auf Sicherheit und Datenschutz.

The UB Media Forensic Laboratory

Führende Forschung zu Computer Vision und maschinellem Lernen trifft auf forensische Analyse digitaler Medien.

Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft

Alles rund um die Arbeitsgesellschaft 2040 in Deutschland.

IfW Kiel Institut für Weltwirtschaft

Daten, Analysen, Prognosen und Lösungsansätze zur Weltwirtschaft als globalem Wirtschaftsraum.

Max-Planck-Gesellschaft, Bereich Klima und Klimawandel

Aktuelle Klimaprognosen mehrerer Max-Planck-Institute, wie und in welchem Maß der Klimawandel noch begrenzbar ist.

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)

Essenzielle gesellschaftliche Fragen aus Sicht von Soziologie, Politikwissenschaft, Ökonomie, Rechtswissenschaft und Psychologie.

Wuppertal Institut

Forschung zu Transformation, Nachhaltigkeit, Klimaverträglichkeit und ressourceneffizienter Entwicklung.


Weiterführende Links


Dossier der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): Transformation des Energiesystems

Beiträge zu Fragen rund um den Energiesektor aus institutioneller, ökonomischer und gesellschaftlicher Sicht seit 2008. 

Das Portal für Politikwissenschaft ist eine Einrichtung der Stiftung Wissenschaft und Demokratie.