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Isabella M. Weber: Das Gespenst der Inflation. Wie China der Schocktherapie entkam

15.11.2023
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Autorenprofil
Vincent Wolff, M.P.P.
Berlin, Suhrkamp Verlag, 2023

Als Ökonomin, die mittlerweile einem breiteren Publikum als „Erfinderin“ der Gaspreisbremse oder des Begriffs der „seller‘s inflation“ bekannt, hat Isabella Weber in ihrem Buch die sukzessive Einführung der Marktwirtschaft nach dem Tod Maos in den Blick genommen. Das Zusammenspiel von Markt- und Planungsmechanismen zur Abwendung schädlicher Inflation beschreibt sie überzeugend als erfolgreiches Modell, das nicht zuletzt auch einen wichtigen Beitrag um heutige wirtschaftspolitische Debatten zur Reduzierung der Inflation sei, meint unser Rezensent Vincent Wolff. (jm)


Eine Rezension von Vincent Wolff

„Die unsichtbare Hand wurde unter Anleitung der sichtbaren Hand eingeführt“ (107): So charakterisiert Isabella M. Weber die wirtschaftspolitischen Entscheidungen Chinas zum Ende der Mao-Zeit. China sei den Urknall-Reformen anderer sozialistischer Länder entkommen, indem der Staat Marktkräfte strategisch genutzt und sukzessive eingesetzt habe, statt alle Preise auf einen Schlag freizugegeben. Dahinter stand die ständige Angst vor einer galoppierenden Inflation. Dies sei die Grundlage für das Wirtschaftswachstums Chinas gewesen.

Weber rührt somit an einem wichtigen Gegenwartsthema. Nach Jahren der Preisstabilität ist die Inflation zurück. Die Ökonomin sieht die Ursachen für die aktuellen Preissteigerungen in der Covid-19-Krise, vor allem den Engpässen und Preisschüben durch die Umstellung der Produktion. Dies sei durch den russischen Angriffskrieg verstärkt worden, als der Markt in seiner Funktion als Mechanismus zur Allokation von Gütern und Dienstleistungen noch größeren staatlichen Eingriffen und Korrekturen ausgesetzt war als vor Pandemie. Die Zeitenwende habe zu radikaler Unsicherheit geführt. Aus der Vergangenheit könne man heute lernen.

Das Buch führt die Leser*innen zurück in die Zeit nach Mao, als China vor der Öffnung der heimischen Wirtschaft stand. 1976 war der Wendepunkt der Geschichte in China. Damit ging eine radikale Abkehr vom Maoismus einher, der sich auf „politische Begeisterung, Egalitarismus, kollektive Anstrengungen und Kommandowirtschaft gestützt hatte“ (168). 1984 sei ein zweigleisiges Preis-System zur offiziellen Politik geworden: Zahlreiche Preise seien reguliert geblieben, während der Markt sich an den Rändern etabliert habe. Der chinesische Staat setzte also laut Weber die Preise grundlegender Güter fest, während die Preise der Überschussproduktion sowie der nicht grundlegenderen Güter sukzessive freigegeben wurden. Dahinter stecke in der chinesischen Politik die Ansicht, dass „Markt und Wirtschaft durch die Interaktion von privaten und bürokratischen Akteuren gemeinsam erzeugt werden“ (40). Das brachte auch eine neue Denkweise mit sich: „Gewinnstreben und individuelle Leistungsanreize waren von nun an willkommen“ (344).

Wichtig sei dabei, die Rolle des chinesischen Staates zu verstehen. Dieser setze, so Weber, „den Markt als Werkzeug ein, um seine übergeordneten Entwicklungsziele zu erreichen“ (18). Von entscheidender Bedeutung sei es, die unterschiedlichen Entwicklungspfade mitzuverfolgen. Dahinter steht für die Autorin die Frage, warum einige Länder der empfohlenen Schocktherapie gefolgt seien, andere nicht – und somit große Unterschiede in der Wirtschaftsentwicklung entstanden.

Dabei seien die Inflation und die Angst vor derselben ein konstantes Motiv. So werde in der chinesischen Geschichtsschreibung auch der Sturz der nationalistischen Regierung 1949 durch die Kommunistische Partei Chinas auf die mangelnde Kontrolle über die Inflation zurückgeführt. Dementsprechend habe die kommunistische Regierung dessen Bekämpfung als oberste Priorität ausgegeben. Dies wurde Weber zufolge mit weitgehend traditionellen Methoden zur Preisstabilisierung und Markterschaffung mittels ausgleichender Eingriffe staatlicher Handelseinrichtungen erreicht. Tatsächlich sei es der kommunistischen Regierung gelungen, die hohe Inflation zu verhindern, wie sie beispielsweise die junge Sowjetunion plagte. Dies sei allerdings auch geschehen, „indem die Konsumbedürfnisse der mehrheitlich bäuerlichen Bevölkerung Chinas unterdrückt wurden“ (137). Im langfristigen Vergleich habe China allerdings einen beispiellosen Erfolg verbuchen können: „Dieses System ermöglichte die Verwandlung Chinas von einem armen Agrarland mit revolutionären Ambitionen in eine der treibenden Kräfte des globalen Kapitalismus“ (401). Aus politischer Sicht war das für Weber entscheidend, denn China wuchs in den globalen Kapitalismus hinein, ohne dass die kommunistische Partei die Kontrolle über die Binnenwirtschaft verlor: „[D]as ist bis heute von gewaltiger politischer Bedeutung“ (405).

Isabella M. Weber zeigt auf, welche historischen Linien die chinesische Wirtschaftspolitik verfolgt und welche Entwicklungen über Jahrzehnte und Jahrhunderte genommen wurden. Das umfasst spannende Einsichten zur Funktionalität von Monopolpreisen und zu marktwirtschaftlichen Vorgängen. Neben der eigenen wirtschaftspolitischen Geschichte seien im 20. Jahrhundert zahlreiche äußere Impulse dazugekommen. Zahlreiche Wirtschaftsnobelpreisträger*innen hätten sich die Klinke in die Hand gegeben, und inner- und außerhalb Chinas über wirtschaftspolitische Entscheidungen gestritten.
Sie ergänzt die historische Abhandlung mit den Biografien ausgewählter chinesischer Ökonom*innen die ihrer Schilderung nach aber erheblich zum Erfolg der erfolgreichen Übertragung der Planwirtschaft in eine weitgehend funktionierende Marktwirtschaft beigetragen haben. Dass meisten jener Ökonom*innen trotz ihrer wichtigen Beiträge heute weitgehend unbekannt oder vergessen sind, möchte die Autorin mit dem Buch ein Stück weit ändern. Das gesamte Werk wird durch zahlreiche Grafiken aufgelockert, insgesamt bleibt es aber sehr daten- und zahlenlastig. Dadurch ist der rote Faden etwas schwerer zu finden, abschnittsweise sind die Ausführungen zu detailliert – das Buch ist unheimlich dicht geschrieben. Dennoch ist Webers Expert*innenwissen beeindruckend.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Weber hat ein Händchen für aufkommende wirtschaftspolitische Themen. Mit der umfassenden Abhandlung über die chinesische Wirtschaftspolitik insbesondere hinsichtlich der Inflationsbekämpfung gelingt ihr ein wichtiges historisches wie wirtschaftspolitisches Werk. Streng genommen mehr Geschichts- denn Wirtschaftsbuch, liefert das Werk wichtige Anhaltspunkte für gegenwärtige politische Debatten. Weber plädiert für eine aktivere Bekämpfung und die Notwendigkeit behutsamer Reformen bei Liberalisierungen. Dabei sind die Parallelen zu Deutschland frappierend, nicht nur weil der chinesische Blick oftmals dorthin wanderte, sondern auch aufgrund ähnlicher kollektiver Ängste. Die politischen Lehren der Inflation der 1920er Jahre in Deutschland haben auch Widerhall in China gefunden – das Interesse an den deutschen Erfahrungen war tatsächlich hoch. Weber formuliert vor diesem Hintergrund das Ziel, Inflation mit den Erkenntnissen der chinesischen Politik auch in Zeiten sich überlappender Krisen zu vermeiden. Ihr Buch erweist sich somit als Lehrstück über den Umgang mit Preissteigerungen.

 

CC-BY-NC-SA
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Weiterführende Links

Isabella M. Weber / 05.05.2023

Ökonomin Isabella Weber über China & Inflation – Jung & Naiv: Folge 640

Jung & Naiv

 

Isabella M. Weber / 12.12.2021

Isabella M. Weber zu Chinas drittem Weg – Future Histories S02E09

Future Histories

 

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