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Repräsentation und Parlamentarismus

Partizipation diesseits und jenseits von Wahlen

Die politische Teilhabe in diversen Formen ist ein wesentliches Merkmal der Demokratie. Sie bezeichne, so Oscar Gabriel, ein zielgerichtetes Handeln, um Entscheidungen zu beeinflussen oder an ihnen mitzuwirken. Dies erfolge laut Max Kaase freiwillig und könne sich auf alle Ebenen politischer Systeme erstrecken. Die Partizipationsforschung unterscheidet zwischen verfassten (kodifizierten), wie beispielsweise die Mitwirkung bei Wahlen, und nicht-verfassten Formen. Beispiel für letztgenannte ist die Mitwirkung in Bürgerinitiativen oder öffentlichen Diskussionen. Die Teilnahme an Wahlen ist die wesentlichste Form institutionalisierter Beteiligung. Sie ermöglicht den Bürger*innen, politisches Führungspersonal auszuwählen und über das politische Geschehen mitzuentscheiden. Die Stimmabgabe gilt als direkteste und egalitärste Partizipationsform. Jedoch befinde sich das Bundestagswahlrecht im Reformdilemma, konstatiert Niels Dehmel, indem er auf Fehlfunktionen des personalisierten Verhältniswahlsystems eingeht.

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Es bestehe die Gefahr einer unbegrenzten Ausweitung der Bundestagssitze durch Überhang- und Ausgleichsmandate, was die Arbeitsfähigkeit des Organs erschwert. Zudem werden Ungleichgewichte in der Parlamentszusammensetzung beklagt, da nicht alle gesellschaftlichen Gruppen repräsentiert sind. Da die soziale Zusammensetzung des Bundestags und der Bevölkerung divergieren, setzt sich etwa der Verein Brand New Bundestag für mehr Parlamentsdiversität ein. Allerdings sinkt die Wahlbeteiligung generell: Während sie bei Bundestagswahlen bis zum Jahr 1987 bei über 85 Prozent, 1972 sogar bei 91,1 Prozent, lag, ist sie seit 1990 (mit Ausnahme von 1998) auf unter 80 Prozent gesunken. Ähnliches gilt für Landtagswahlen, so sank sie 2022 in Nordrhein-Westfalen auf nur 55,5 Prozent, und besonders für Kommunalwahlen. Ausnahme war die Europawahl 2019 mit der höchsten Wahlbeteiligung seit zwanzig Jahren (61,4 Prozent). Die rückläufige Wahlbeteiligung und der hohe Anteil an Nicht-Wähler*innen in sozial-prekären Schichten deuten auf eine Krise der repräsentativen Demokratie hin. Wie lässt sich also in ihrem Sinne wieder mehr politische Teilhabe von Bürger*innen erreichen?

Gestiegenen Partizipationsbedürfnissen kann unter anderem durch direktdemokratische Elemente begegnet werden. Obwohl auf Bundesebene eher schwach ausgeprägt, wurden Verfahren der Volksgesetzgebung Mitte der 1990er-Jahre in die Länderverfassungen integriert und Bürgerbegehren sowie Bürgerentscheide in den Kommunen eingeführt, die regional differieren. Die Europäische Bürgerinitiative gibt Bürger*innen die Chance, die Politikgestaltung in der EU zu beeinflussen: Hier kann die EU-Kommission gezwungen werden, thematisch mittels Vorschlagsrecht für Rechtsakte in Bereichen ihrer Zuständigkeit aktiv zu werden. Laut Nils Meyer-Ohlendorf stärken Bürgerräte die Beteiligung in der Union. Beispielsweise erhöhten Bürgerforen bei der Konferenz zur Zukunft Europas den Austausch zwischen Bürger*innen aus allen Mitgliedstaaten. Um sie auch künftig intensiver in den Entscheidungsprozess einzubinden, sollten sie möglichst repräsentativ zusammengesetzt sein. Doch dürften diese lediglich beratenden Bürgerräte keinesfalls als Ersatzparlament fungieren. Ähnliches gilt für die Bundesebene. 2019 kam so der Bürgerrat Demokratie in Leipzig, per Losverfahren ermittelt, zusammen, um die Funktionen der Demokratie zu beleuchten. Die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas kündigte an, dieses relativ neue Beteiligungsinstrument auszubauen. All dies diene nicht als Ersatz der repräsentativen Demokratie, sondern ergänze dialogisch den Kontakt zwischen Parlament und Bürger*innen. Sowohl beim Deutschen Bundestag als auch bei den Landesparlamenten können zudem (Online-)Petitionen eingereicht werden, über die in den Petitionsausschüssen beraten und entschieden wird. Daneben sind jüngst partizipative Planungsverfahren und Online-Bürgerhaushalte auf kommunaler Ebene in den Fokus gerückt.

Die Mitarbeit in Parteien ist eine weitere Form politischer Partizipation mit zentraler Bedeutung für das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie. Jedoch sinken Mitgliederzahlen und die Bereitschaft, sich dauerhaft in die Arbeit einer Partei einzubringen. Während also verbindliche Parteimitgliedschaften schwinden, nimmt das zeitlich begrenzte, an einzelnen Themen und Projekten orientierte, Engagement zu. Während einige diesen Wandel in der politischen Partizipation als Bedrohung für das repräsentative System sehen, bewerten es andere als eine Ergänzung der konventionellen Formen politischer Partizipation.

Für Jürgen Kocka verfügt die Zivilgesellschaft in der Gesamtheit ihres Engagements der Bürger*innen mittlerweile über eine eindrucksvolle Kraft. Nach Angaben der Maecenata-Stiftung umfasst sie rund 800.000 organisierte Bewegungen, Organisationen und Einrichtungen sowie unorganisierte oder spontane kollektive Aktionen. Derzeit engagieren sich etwa 40 Prozent hierzulande freiwillig, so eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD von 2022. Aufgrund von Digitalisierung und verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten – Stichwort „E-Partizipation“ – könnte sich das noch künftig intensivieren. Neue, weniger institutionalisierte Kommunikationswege ergänzten die konventionellen Formen der Mitwirkung. Fraglich bleibt jedoch, ob Partizipation als ein wirkungsvolles Instrument gegen Politikverdrossenheit dienen kann.

Rezensionn / Max Lüggert / 04.10.2023

Michael L. Hughes: Embracing Democracy in Modern Germany. Political Citizenship and Participation, 1871-2000

London, Bloomsbury Publishing 2021
Michael L. Hughes schildert ausführlich, wie sich die Demokratie in Deutschland zwischen 1871 und 2000 entwickelt hat. Dabei geht er chronologisch vor und beschreibt ihre wechselvolle Geschichte vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur bis hin zur Teilung Deutschlands und schließlich zur Wiedervereinigung. Dabei stehen insbesondere Fragen der politische...
Rezension / Daniel Hellmann / 26.09.2023

Isabela Mares: Protecting the ballot. How First-Wave Democracies ended electoral corruptions

Princeton, Princeton University Press 2022
Isabela Mares untersucht, wie es Frankreich, Deutschland, Belgien und Großbritannien zwischen 1850 und 1918 gelang, Wahlreformen einzuführen, die Wahlfälschungen reduzierten. Anhand parlamentarischer Debatten und namentlicher Abstimmungen zeigt sie, dass es neben einer demokratischen Grundüberzeugung vor allem wahltaktische Überlegungen sowie Ressourcen- und Machtfragen waren, die Abgeordnete...
Rezension / Rainer Lisowski / 07.09.2023

Peter Kirsch, Hanno Kube, Reimut Zohlnhöfer: Gesellschaftliche Selbstermächtigung in Deutschland. Fridays for Future und Corona-Skepsis im Vergleich

Wiesbaden, Springer VS 2022
Zuletzt haben so unterschiedliche Gruppen wie Fridays for Future (FFF) mit dem Schulstreik und die Kritiker*innen der Corona-Politik mit dem demonstrativen Regelbruch auf ihre politischen Anliegen aufmerksam gemacht. Das Buch untersucht, was empirisch hinter der „gesellschaftlichen Selbstermächtigung“ dieser beiden Bewegungen steckt. Auf Basis von Umfragedaten zeigen die Autoren, wie die deut...
Rezension / Anastasia Pyschny / 01.09.2023

Valentin Martin Heimerl: Paritätische Aufstellung von Kandidaten für Bundestagswahlen. Eine verfassungsrechtliche Untersuchung

Berlin, Duncker & Humblot 2023
Wie kann der Frauenanteil im Bundestag erhöht werden? Sind gesetzliche Vorgaben hierzu zulässig? Schließlich wurden zwei Paritätsgesetze, die eine alternierende Besetzung der Landeslisten mit Männern und Frauen vorsahen, in Brandenburg und Thüringen für verfassungswidrig erklärt. Valentin Heimerl untersucht ,„inwiefern bundesgesetzliche Vorgaben mit dem Ziel einer paritätischen Besetzun...
Studienbesprechung / Lucas Neuling / 06.08.2023

Sebastian Pink, Johannes Schmidt: Das Wetter ist politisch – Starkregen, Hochwasser und Flut vor der Bundestagswahl 2021

Wie hat das verheerende Unwetter Mitte Juli 2021 in Deutschland die Bundestagswahl beeinflusst? Dieser Frage stellen sich Sebastian Pink und Johannes Schmidt in ihrer Studie. Sie untersuchen, welche Parteien (CDU, SPD, Grüne) von der Dankbarkeit (oder dem Unmut) der Wähler profitierten. Lucas Neuling hat die Vorgehensweise und Ergebnisse für uns besprochen....
IParl-Podcast: Zwischenruf / Oliver Kannenberg, Frank Decker / 02.06.2023

"Alle lieben den Verrat, aber keiner den Verräter": Ist die geheime Wahl von Ministerpräsidenten noch zeitgemäß?

 In dieser "Außerordentlichen Sitzung" steht explizit der Wahlmodus im Fokus, wonach Abstimmungen über Regierungschef*innen in Deutschland grundsätzlich in geheimer Wahl vonstattengehen. Wie kam diese Verfahrensregelung zustande, was waren Sinn und Zweck? Im Nachgang der causae Simonis, Wegner, oder Ypsilanti diskutieren Oliver Kannenberg vom Institut für Parlamentarismusforschung (I...
Rezension / Jonas Rädel / 19.04.2023

Oscar W. Gabriel: Politische Partizipation. Eine Einführung in Theorie und Empirie

Wiesbaden, Springer VS 2022
Das vorliegende Lehrbuch von Oscar W. Gabriel sei eine gut lesbare und fundierte Einführung in die politische Partizipationsforschung, lobt Jonas Rädel. Übersichtliche Kriterienkataloge und Definitionen vermittelten den Leser*innen das notwendige Rüstzeug, um verschiedene Partizipationsformen zu untersuchen. Der eindeutige Fokus des Buchs auf der empirischen Partizipationsforschung mithilfe qu...
IParl-Podcast: Zwischenruf / Daniel Hellmann, Melanie Sully / 10.03.2023

Referendum – Neverendum? Wie britischer Parlamentarismus und Referenden zusammengehen

Großbritannien ist das Mutterland des Parlamentarismus und trotzdem finden dort immer wieder auch Referenden, also Formen direkter Demokratie; statt. 2011 wurde über eine Änderung des Wahlsystems, 2014 über die schottische Unabhängigkeit und 2016 über den Brexit abgestimmt. Mit Melanie Sully, gebürtige Britin und Direktorin des österreichischen Go-Governance-Instituts, besprechen wir den S...
Standpunkt / Philipp Legrand / 01.03.2023

Mehr Partizipation wagen: Wie der Bundesfreiwilligendienst die Demokratie stärkt

Menschen mit geringem Einkommen gehen seltener zur Wahl und engagieren sich kaum politisch. Um diesem demokratietheoretischen Problem entgegenzuwirken, plädiert Philipp Legrand für eine Stärkung des Bundesfreiwilligendienstes. Studien zeigten, dass Bundesfreiwillige stärker politisch engagiert seien und über ein ausgeprägtes demokratisches Bewusstsein verfügten. Besonders wichtig sei, dass ...
Analyse / Daniel Hellmann / 07.02.2023

Berlin’s Extraordinary Election. Flaws, Failures, and Their Consequences

Die Berlinwahl 2023 findet statt. Zuletzt lehnte das Bundesverfassungsgericht einen Eilantrag gegen die Wiederholung ab. Daniel Hellmann vom Institut für Parlamentarismusforschung (IParl) hat die Ereignisse in Berlin rund um die Wahlwiederholung in englischer Sprache für The American Institute for Contemporary German Studies (AICGS) zusammengefasst. ...

Partizipation diesseits und jenseits von Wahlen


Veröffentlichungen


Lehrbuch / Oscar W. Gabriel / 2022

Politische Partizipation. Eine Einführung in Theorie und Empirie

Springer VS

Die empirische Partizipationsforschung beschäftigt sich mit der Frage, wer sich wie, warum und mit welchen Folgen politisch engagiert.

Kursbuch / Jörg Sommer (Hrsg.) / 2022

Kursbuch Bürgerbeteiligung #4

Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung (IDPF)

Kommunale Bürgerbeteiligungen boomen. Somit zieht das Kursbuch #4 Bilanz und stellt Bausteine gelungener Partizipationskonzepte vor.

Studie / Kristin Bonitz / 2022

Engagement in der Zivilgesellschaft - warum und wie Freiwillige in Deutschland helfen

Sozialwissenschaftliches Institut der EKD

Näheres dazu, wie, warum und vor welchem Hintergrund sich Bürger*innen hierzulande ehrenamtlich engagieren.

Forschungsprojekt / IParl / 2017-2022

Kandidatenaufstellung zur Bundestagswahl 2017 (#BuKa2017)

Institut für Parlamentarismusforschung (IParl)

Untersucht wurden Nominierungsverfahren, Kandidaturen und deren Erfolgsaussichten in unterschiedlichen Parteien vor der Bundestagswahl 2017.

Ausarbeitung / Wissenschaftliche Dienste (Hrsg.) / 2016

Sinkende Wahlbeteiligung in Deutschland. Ursachen und Lösungsvorschläge

Deutscher Bundestag

Nach einer Analyse von Nichtwählerstudien werden hier Vorschläge zur Erhöhung der Wahlbereitschaft formuliert.
 


Forschungseinrichtungen und Think Tanks
 


Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung (IDPF)

Über Beteiligungsformate, in denen sich Bürger*innen aleatorisch und nicht interessengeleitet in politische Entscheidungsprozesse einbringen können.

Berlin Institut für Partizipation

Analysen und News rund um die Weiterentwicklung von Partizipation, Bürgerbeteiligung und Demokratie.
 


Weiterführende Links


politik-digital e. V.

Über die Digitalisierung demokratischer Prozesse, mittels derer Beteiligungsmöglichkeiten für Bürger*innen in Europa und institutionelle Transparenz gestärkt werden könn(t)en.

Brand New Bundestag

Die Initiative engagiert sich für eine diversere Zusammensetzung des Parlaments.