Wie gelang es, eine Organisation wie die EU zu schaffen? Möglich wurde es zum einen durch viele Integrationsschritte – die von der Bereitschaft aller Mitglieder abhingen, Probleme gemeinsam zu bewältigen und dafür Teile nationaler Souveränität an ‚Brüssel‘ abzugeben. Für den Einsatz zur Förderung von Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa erhielt die EU 2012 daher den Friedensnobelpreis. Doch der Weg ist von jeher steinig, viele Krisen haben die EU vor Belastungsproben gestellt. Jean-Claude Juncker prägte den Begriff der Polykrise, die die EU seit Jahren forme. Erinnert sei hier an die Finanzkrise 2008, in deren Folge der Intergouvernementalismus gestärkt wurde und vereinzelt autoritäre Züge europäischen Regierens beobachtbar waren. Viele beklagen ein Demokratiedefizit der EU – aufgrund ihrer institutionellen Struktur, mangelnder Transparenz des Entscheidungsprozesses und der bisher zu geringen Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung. Zudem lässt sich ein Anstieg des nationalistischen Populismus in den Mitgliedstaaten beobachten, der für autokratische Tendenzen sorgt – siehe den gefährdeten Rechtsstaat in Ungarn und Polen. Seit dem Vertrag von Maastricht sei es zu einer schleichenden Renationalisierung gekommen, so die Politikwissenschaftlerin Ingeborg Tömmel. Ähnlich äußern sich Martin Große Hüttmann, der vom Phänomen der Desintegration spricht, und auch Otto Schmuck. Letzterer sieht im Brexit ein Exempel für schon länger beobachtbare zentrifugale Kräfte in der EU, der zugleich eine Zäsur in der Einigungsgeschichte darstelle.
Die bisherige Integration wurde nicht nur durch interne Prozesse ermöglicht, auch nahmen die Vereinigten Staaten eine ausgleichende Funktion auf dem europäischen Kontinent ein und stützten westliche Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg beim wirtschaftlichen Wiederaufbau: Mit ihrer Präsenz trugen sie nicht nur dazu bei, dass Konflikte zwischen den Europäer*innen friedlich beendet wurden, sie schützen diese vor allem auch gegen äußere Bedrohungen. Die internationale Konfliktlage und die sicherheitspolitische Hinwendung der USA nach Asien-Pazifik erfordert von den Europäer*innen heute erheblich mehr Engagement für die eigene Sicherheit. Beobachter*innen prognostizieren, dass die USA ihr bisheriges Engagement für die europäische Sicherheit künftig nicht mehr aufrechterhalten können oder wollen. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zeichnet sich ein Übergang von einer europäischen Friedens- hin zu einer konfrontativen Sicherheitsordnung ab, so Nicolai von Ondarza und Marco Overhaus. Das Streben nach strategischer Souveränität und Verteidigungsfähigkeit in Europa sei dringlich geworden. Europas Sicherheitspolitik müsse gestärkt werden, um handlungsfähiger zu werden. Dabei bleibt ein abgestimmtes Vorgehen mit den USA und der NATO notwendig, den für die EU weiterhin äußerst bedeutsamen Akteuren.
Wie lässt sich die Integration weiterentwickeln? Welche Entwürfe liegen vor? Die von Europawissenschaftler*innen präsentierten Überlegungen reichen bis hin zur Schaffung einer politischen Union nach US-amerikanischem Vorbild. Andere plädieren dafür, dass sich die EU auf ihre Ziele konzentriert: Friedenssicherung, Förderung des wirtschaftlichen Wohlstands, ohne aber eine engere Union anzustreben. Stattdessen hält Heinrich August Winkler eine „ever closer cooperation“ für realistisch. Insgesamt hat sich das Konzept der differenzierten Integration, einer Kooperation einzelner Mitglieder in Politikbereichen außerhalb der EU-Verträge, als Weg erwiesen, die Integration zu fördern.
Starke Reformimpulse gehen von einigen politischen Akteuren in den Mitgliedstaaten aus. So schlägt Präsident Emmanuel Macron wiederholt umfassende EU-Reformen vor. 2017 sprach er gar von einer „Neugründung“ der Union. Es gelte, das EU-Parlament zu stärken sowie eine Wirtschafts- und Währungsunion zu schaffen. Auch die aktuelle Bundesregierung formuliert im Koalitionsvertrag ein weitreichendes Ziel: die Schaffung eines föderalen europäischen Bundesstaates, der dezentral nach den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit organisiert sein soll. In institutioneller Hinsicht strebt die Ampelkoalition ein stärkeres EU-Parlament und ein einheitliches Wahlrecht an, mit transnationalen Listen und Spitzenkandidat*innen. Und auch eine inhaltliche Vertiefung in verschiedenen Politikbereichen ist genannt, etwa in der Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Für das Gelingen der Integration sind institutionelle Reformen, eine inhaltliche Vertiefung und das Entstehen einer europäischen Identität wichtig – die Bürger*innen müssen die EU als eigene Sache annehmen, so Thomas Jansen. Edgar Grande hält hier eine stärkere politische Mobilisierung der Menschen für wesentlich. Kann eine solche Politisierung durch eine Konferenz zur Zukunft Europas erreicht werden, bei der Bürger*innen ihre Visionen zur Gestaltung der EU formulieren? Und ob die im Ukraine-Krieg demonstrierte Einigkeit der EU, wie beispielsweise gemeinsame Sanktionen gegen Russland im Finanzsektor, Bestand hat, ist nicht absehbar. Fest steht, dass sich die Union zur weltweit erfolgreichsten Regionalorganisation entwickelt hat.
SWP-Aktuell / Raphael Bossong / 03.12.2021
Polen ermangelt es weiter an unabhängiger Justiz, sodass Brüssel über Sanktionen nachzudenken hat.
Aktuelles / Europäische Union / 10.01.2022
Dieses sicherheitspolitische Grundlagenpapier betrachtet Krisenmanagement, Resilienz, Fähigkeiten und Partnerschaften.
Analyse / Ulrich Brasche / 03.06.2020
Über den Mehrwert der Unionsmitgliedschaft und die praktische Umsetzbarkeit von Versprechen.
Analysen zu den zentralen Herausforderungen der EU und Europas. Im Fokus stehen Politikfelder, Prozesse und Interessen, die das Handeln der EU und ihrer Mitgliedstaaten prägen.
Die EUISS forscht zu sicherheits- und verteidigungspolitischen Themen der Union und ihrer Mitgliedstaaten.
Das IEP widmet sich europäischer Politik und Integration in Forschung, Forum und Fortbildungen.
Das Jacques Delors Centre betreibt empirisch fundierte EU-Forschung aus rechts-, politik- und wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive.
Das AOZ befasst sich damit, wie die EU in ihren Entscheidungen und Handlungen strategischer werden kann und was dies von Deutschland erfordert.
Analysen aus Berlin, London, Madrid, Paris, Rom, Sofia und Warschau zu europäischer Außen- und Sicherheitspolitik.
Das EPC widmet sich der Stärkung der europäischen Integration mit Analysen und Debatten.
Die Zeitschrift Integration befasst sich mit Grundsatzfragen der europäischen Integration. Darüber hinaus werden aktuelle Probleme der Europapolitik aus politischer und akademischer Perspektive diskutiert.
In zwölf Themenfeldern rund um „Demokratie und Frieden“ bieten wir Rezensionen, Analysen, Essays, Kommentare/Standpunkte sowie Interviews. Wir zeigen auf, welche Erklärungen die Politikwissenschaft für das aktuelle politische Geschehen bereithält.
Redaktion
Svenja Sinjen, David Kirchner und Tanja Thomsen
Kontakt
Sie möchten einen Beitrag verfassen, haben Fragen oder Anregungen? Sprechen Sie uns an!
E-Mail: info@pw-portal.de
Telefon: 0431/97 999 847
Hinweise zum Verfassen von Beiträgen finden Sie hier:
Das Portal für Politikwissenschaft ist eine Einrichtung der Stiftung Wissenschaft und Demokratie.