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Freiheit im Anthropozän

15.09.2023
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Carlotta Voß
Beide Bücher ergänzen einander nicht nur inhaltlich, sondern halten auch zu einer Reflexion über die Aufgabe politischer Theorie im Anthropozän an, so unsere Rezensentin. Foto: djedj, Pixabay.

Die Klimakatastrophe birgt Menschheitsaufgaben, deren Bewältigung epochale politische Fragen impliziert. Carlotta Voß hat für uns hierzu „Bleibefreiheit“ und „Demokratie und Nachhaltigkeit“ rezensiert. Während von Redeckers Freiheitsbegriff sich nur gemeinsam „nach sozial-ökologischer Revolution“ herstellen lässt, konzipiert Felix Heidenreich einen republikanischen zum Aufbau nachhaltiger Lebenswelten im Nachgang einer „sanft“-sukzessiven Transformation: „Nebeneinander gelesen“, erlauben indes beide Werke „über die Kategorie der Zeit“ ein politiktheoretisches Nachdenken über eine bessere Zukunft. (tt)


Eine Sammelrezension von Carlotta Voß

Freiheit und Weltverantwortlichkeit, Freiheit und Ökologie: In den politischen Debatten der Gegenwart begegnen sie uns immer öfter als Spannungsverhältnis. Die Evidenz des menschengemachten Klimawandels erschüttert nicht nur die Überzeugung liberal-demokratischer Gesellschaften, mit ihrem Freiheitsideal Fortschritt zu verkörpern – schließlich lässt sich nicht leugnen, dass die Verantwortung für den Klimawandel gerade bei diesen Gesellschaften liegt. Angesichts der Zeitsensibilität und Komplexität der Aufgabe, die Erderwärmung nicht nur zu begrenzen, sondern auch Anpassungsmaßnahmen umzusetzen, wo Versuche der Begrenzung schon zu spät sind, werden auch Zweifel laut, ob die liberale Demokratie pragmatisch (noch) die beste Regierungsform ist.

In kurzem Abstand sind nun zwei Bücher erschienen, die politiktheoretische Orientierung versprechen, wo zuletzt oft eine Aporie behauptet wurde: Felix Heidenreichs „Nachhaltigkeit und Demokratie“ und Eva von Redeckers „Bleibefreiheit“. Beide basieren auf denselben Prämissen: Der Klimawandel ist eine epochale Menschheitsaufgabe, für die eine rein technologische Lösung höchst unwahrscheinlich ist. Vielmehr macht sie eine gesamtgesellschaftliche Transformation notwendig, die aber durchaus nicht einen Bruch mit dem demokratischen Ideal der Gleichfreiheit voraussetzt – sondern die im Gegenteil aus ihm heraus so gedacht werden kann, dass eine nachhaltige Zukunft auch eine gerechtere in seinem Sinne wäre.

Wie Heidenreich und von Redecker von diesen Prämissen aus aber ihre Argumentation entfalten, steht in einer fruchtbaren Spannung: Die beiden Bücher verkörpern zwei Paradigmen politischer Theorie. Es lohnt sich daher im doppelten Sinne, sie nebeneinander zu lesen: Sie treten so nicht nur in eine Beziehung inhaltlicher Ergänzung, sondern halten gemeinsam auch zu einer Reflexion über die Aufgabe politischer Theorie im „Anthropozän“ an.

Nachhaltigkeit ist nicht demokratieneutral

Felix Heidenreichs erklärtes Ziel in „Nachhaltigkeit und Demokratie“ ist es, einen „Werkzeugkasten“ (29) bereitzustellen, der praktisch nützlich ist für die große Aufgabe, die fossil motorisierte Gegenwart „weich“ (23) in einer nachhaltigen Zukunft zu landen. Die Metapher des Werkzeugkastens spiegelt sich im Aufbau des Buches insofern, als dass es in einzelne Kapitel zerfällt, die je für sich stehen können. Nur gemeinsam aber erschließen sie Heidenreichs Generalschlüssel (um in der Metaphernsprache zu bleiben): einen „dynamischen Republikanismus der Nachhaltigkeit“. Er ist als Paradigma angekündigt, das zu sehen lassen vermag, wie Demokratie und Nachhaltigkeit zusammenhängen (können) – und das insofern die verbreitete These der „Demokratieneutralität“ der Nachhaltigkeit (aber auch jene der prinzipiellen Spannung von Demokratie und Nachhaltigkeit) fraglich macht.

Es ist Heidenreichs erster Einsatz, dass Nachhaltigkeit kein Politikbereich unter anderen ist, sondern vielmehr eine epochale, kollektive Herausforderung, die alle Politikbereiche betrifft und die als politisches Ziel nach einer umfassenden Transformation der Gesellschaft verlange. Das erste Werkzeug, das er seinen Leser*innen anbietet, um diese Transformationsaufgabe in ihrer Komplexität zu verstehen, ist der Begriff der „Lebenswelt“. Heidenreich möchte ihn als „synthetische Heuristik“ (63) von verhaltensökonomischen und sozialpsychologischen Weiterentwicklungen des rational-choice-Modells sowie der Foucault’schen Theorie der Subjektivierung verstanden wissen. Er definiert Lebenswelt, nach kurzer Diskussion der Begriffsverwendung in Philosophie und Soziologie, als „Ensemble interagierender technisch-materieller, sozial-kultureller und individuell-mentaler Infrastrukturen, das Handlungsroutinen ermöglicht“ (78) und das „Resultat kollektiv bindenden Handelns“ (90), wenn auch oft nicht bewusster Planung, sei. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt der technisch-materiellen Dimension der Lebenswelt beziehungsweise ihrem Zusammenspiel mit den mentalen und sozio-kulturellen Infrastrukturen. Dass dieses Zusammenspiel in der Philosophie und Soziologie lange vernachlässigt worden und technisch-materielle Strukturen fälschlich politikneutral gedacht worden sind, ist ein berechtigter Vorwurf Heidenreichs, den er allerdings um Willen der Originalitätsbehauptung tendenziell überspitzt.

Grammatiken politischer Theorie: Liberalismus und Republikanismus

Ausgehend von dem Begriff der Lebenswelt formuliert Heidenreich die These, dass eine Politik der Nachhaltigkeit nur als Politik der Gestaltung von Lebenswelt zu denken ist. Das liberale Politik- beziehungsweise Demokratieverständnis aber verstelle diese Einsicht – im Unterschied zu ihrem republikanischen Äquivalent. Negativ folge daraus, dass „Nachhaltigkeit […] nicht liberal organisierbar“ ist (107). Heidenreich argumentiert konstruktiv für diese Behauptung, indem er die (hegemoniale) liberale „Grammatik“ politischen Denkens im Vergleich zur republikanischen beleuchtet.[i] Bezüglich der Unterscheidung als solcher ist in seinem Buch nichts neues zu holen, Heidenreich arbeitet aber überzeugend das Potential der republikanischen Tradition für die Aufgabe heraus, Nachhaltigkeit und Demokratie zu versöhnen. Das gelingt ihm vor allem, indem er entlang einer Kritik des liberalen (negativen) Freiheitsbegriffs, die in vielem von Redeckers entsprechenden Ausführungen parallelisiert, den republikanischen (qualitativen oder sozialen) Freiheitsbegriff ausbuchstabiert: Dieser ermögliche, die staatliche Gestaltung von Lebenswelt im Sinne der Förderung einer Suffizienz-Kultur als Ausdruck von Freiheit zu denken, sofern entsprechende Gestaltungsmaßnahmen Ausdruck bürgerlicher Willensbildung und Selbstregierung sind.

Nun lassen sich in der republikanischen Tradition aristokratisch-expertokratische Einengungen des Bürgerbegriffs bezeugen, die praktisch im Konflikt mit einem modernen Demokratieverständnis stehen. Heidenreich reagiert auf diesen Umstand, indem er zwischen einem (effektiv paternalistischen) „statischen Republikanismus“ und einem (effektiv „autopaternalistischen“) „dynamischen Republikanismus“ unterscheidet, der das bürgerliche Subjekt und das Gemeinwohl als kontingentes Resultat von Aushandlungen versteht.

Institutionen autopaternalistischen Regierens

Es ist eine Leitfrage von Heidenreichs Buch, wie die zentrale Herausforderung eines dynamischen Republikanismus – nämlich Input-Legitimation für Gemeinwohl-Konzeptionen und Maßnahmen der Lebenswelt-Gestaltung sicherzustellen – gewährleistet werden kann. Gerade aus der Perspektive der Nachhaltigkeit, die, als Paradigma verstanden, die Komplexität der ohnehin schon so komplexen modernen Welt erhöht, liegt es nahe, zwischen (demokratischer) Partizipation und der Qualität politischer Entscheidungen eine unüberwindbare Spannung zu sehen. Heidenreich versucht hier zu vermitteln, indem er drei Strategien einer demokratischen Institutionalisierung von Nachhaltigkeit diskutiert: Verrechtlichung, Expert*innenenbeiträte und Bürger*innenräte. Ganz im Sinne seines Anspruchs praktischer Nützlichkeit argumentiert er dabei mit Blick auf den deutschen beziehungsweise europäischen Kontext und im ständigen Bezug auf empirische Beispiele. Besonders seine Auseinandersetzung mit Bürger*innenräten, die seit geraumer Zeit bekanntlich Konfliktgegenstand in der deutschen Politik sind, wird damit zu einem wertvollen Debattenbeitrag.

Praxisbezug zeichnet auch den zweiten Hauptteil von Heidenreichs Buch aus. Anhand von drei Politikfeldern (nämlich Verbraucher*innendemokratie, Mobilitätspolitik und Digitalisierung) versucht Heidenreich, die bis dahin entwickelte Perspektive eines dynamischen Republikanismus der Nachhaltigkeit zu veranschaulichen und sein Anliegen einer Re-Politisierung der Nachhaltigkeitsdebatte umzusetzen. Er schärft dabei die Differenz zwischen einem liberalen Verständnis der Bürger*innen als Konsument*innen einerseits und einem republikanischen Verständnis der Bürger*innen als am Gemeinwohl engagierten citoyens andererseits. Gleichzeitig gewinnt die nachhaltige Lebenswelt an Plastizität und hierin liegt ein besonderer Verdienst des Buches. Ob staatliche Gütesiegel für Nachhaltigkeit, Außenwerbeverbot oder Tempolimit – Heidenreich diskutiert eine Vielzahl von Maßnahmen politischer Lebensweltgestaltung, die gleichermaßen im Sinne des Ziels einer nachhaltigen Lebensführung und eines republikanischen Bürgerverständnisses sind.

In einem letzten, kurzen Kapitel stellt Heidenreich auf das Subjekt scharf, das aus einer nachhaltigen Lebenswelt hervorgeht. Er beschreibt es in Opposition zum unternehmerischen Selbst neoliberaler Gouvernementalität als ein Subjekt, das nicht auf negative Freiheit im Sinne größter Unabhängigkeit, sondern auf qualitative Freiheit im Sinne der Anerkennung und Gestaltung von Interdependenz gerichtet ist. Mit diesem Ausklang seines Buches ist eine Brücke zu Eva von Redeckers „Bleibefreiheit“ geschlagen.

Ein ökologisches Weltverhältnis

Wo Heidenreichs Fokus auf der institutionellen Gestaltung einer nachhaltigen Demokratie liegt, interessiert sich von Redecker vor allem für die Erfahrungsrealität eines ökologischen Weltverhältnisses aus der Perspektive des verkörperten Menschen. Von Redecker schreibt als Arendtianerin, aus einer phänomenologischen und existenzphilosophischen Tradition heraus. Und sie macht eine dieser Tradition zentrale Kategorie, die Kategorie der Zeit, zum Ausgangspunkt des Versuchs, Ökologie und Freiheit zusammenzudenken beziehungsweise eine positive ökologische Freiheit zu definieren. Die moderne (liberale) Tradition des politischen Denkens, so von Redeckers zentraler Einsatz (der durchaus generalisiert, aber das muss in einem Essay der großen Linien gestattet sein), bestimme Freiheit exklusiv über die räumliche Metapher; der ohne Zeit gedachte Raum aber sei ein Raum ohne Lebendiges, ohne Welt, ohne sterbliche Menschen. Der liberale Freiheitsbegriff perpetuiere infolgedessen Gleichgültigkeit gegenüber der lebendigen Welt: eine Gleichgültigkeit, die sich praktisch in eben jener Veralltäglichung von Weltabnutzung zeige, die den anthropogenen Klimawandel mit all seinen verheerenden Konsequenzen für Mensch und lebendige Kultur bedinge. Wenn von Redecker demgegenüber versucht, Freiheit über Zeitlichkeit vermittelt zu denken – dann um Freiheit in einem ökologischen Weltverhältnis zu entdecken.

Die Todesfurcht der liberalen Tradition

Die Denkbewegung (von Redecker ist bemüht, die Denkarbeit selbst darzustellen, die Argumente zum Ergebnis hat, und so macht sie in guter Arendt’scher Tradition das Denken selbst zum Thema) verläuft in drei Schritten: Genealogisch-ideengeschichtlich spürt Redecker zunächst der „Scheu vor der Zeitlichkeit“ (29) nach, die sie der liberalen Tradition (und außerdem dem platonischen Denken) diagnostiziert. Die Ursache dieser Scheu findet sie in „Todesfurcht und Todesverdrängung“: Der sterbliche Mensch kann, das ist von Redeckers eingängige Prämisse, über Zeit nicht lange nachdenken, ohne auf den Tod zu stoßen, auf die Endlichkeit seiner Existenz. Die platonisch-christlich-jüdische Tradition habe versucht, die Tatsache der Endlichkeit durch die Ewigkeitsidee zu verdrängen, der säkulare Liberalismus habe die metaphysische Ewigkeit in einen anonymen Geschichts- (und Fortschritts-)Prozess umgedeutet. Was geschieht in der Folge mit der Freiheit? Sie wird, so von Redecker, zum Spielraum eines sich selbst besitzenden, souveränen Individuums in einem konkreten Augenblick ohne Vergangenheit und Zukunft – und damit zu einem knappen Gut, das in Besitzverhältnissen behauptet wird. Ihr Ausdruck werde die ungehemmte Bewegung.

In Antithese zu dieser Koppelung von Freiheit und ungehemmter Bewegung im beherrschten Raum nennt von Redecker die Freiheit, um die es ihr geht, titelgebend „Bleibefreiheit“. Die Bleibefreiheit „verweigert den Ausstieg aus der Zeit. Sie hält sich an die endliche, diesseitige Lebensspanne und bemisst Freiheit im ersten Schritt einfach an der Lebenszeit“ (65).

Erfüllte Zeit = vermehrte Freiheit

Natürlich bleibt es nicht bei diesem ersten Schritt: In einem zweiten gilt es für von Redecker zu bestimmen, was „Lebenszeit“ im Sinne der Zeit eines lebenswerten Lebens eigentlich ist. Analog zu der kanonisierten Chronos-Kairos-Unterscheidung – die von Redecker allerdings nicht erwähnt; auch die reiche Zeitphilosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der diese Unterscheidung weiter ausgearbeitet worden ist, findet bei ihr nahezu keine Beachtung – differenziert von Redecker zwischen „leerer“ und „erfüllter“ Zeit: Während die leere (oder abstrakte) Zeit quantitativ bemessen, besessen und so zum Beispiel in Arbeitsstunden verkauft werden könne, sei die erfüllte Zeit das Erlebnis, „dass die eigene Zeit auf wünschenswerte Weise beansprucht“ (67) werde. Anders formuliert: Die erfüllte Zeit ist nicht die Zeit, über die ich souverän verfüge, sondern die Zeit, in der ein Anderer beziehungsweise ein Außen sich mir zuwendet und ich mich ihm zuwende. In dieser Bewegung der Zuwendung, das ist von Redeckers nicht-materielle Definition der Fülle, „vervielfacht“ (86) sich die Zeit.
Für die Freiheit, sofern sie über erfüllte Zeit vermittelt gedacht werde, folge daraus: Freiheit sei nichts, was gegeneinander und gegen äußere Einflüsse geschützt werden müsse, sondern sie entstehe vielmehr schöpferisch im Zusammenspiel und habe damit immer auch den Charakter einer Befreiung, der Befreiung nämlich von der Eintönigkeit des isolierten Lebens, in der leere Zeit einfach dahinfließe.

Die Ausführungen von Redeckers erinnern hier zugleich an Rosas Resonanztheorie und an Hannah Arendts Bestimmung von Freiheit als Ereignis des Miteinanderhandelns. Es ist ein Verdienst der Autorin, dass sie das Esoterik-Potential der Resonanz-Theorie mit Arendts Urteilstheorie einhegt. Wie von Redecker nämlich mehrfach betont: Der Anspruch des Anderen auf meine Zeit schenkt mir zwar die Möglichkeit der Befreiung in einem gemeinsamen, schöpferischen Neuanfang. Aber ob ich diese Möglichkeit wahrnehme, unterliegt meiner Entscheidung und meiner Verantwortung, „einen erfüllenden und keinen wahllosen Anfang zu machen“ (95). Diese Verantwortung verlangt mein Urteil, mit wem ich meine „Zeit verbringen und also in Sachen Freiheit kollaborieren“ (100) will.

Leider aber bleibt der Aspekt des Urteilens bei von Redecker unterbeleuchtet: Ihre Leidenschaft gilt merklich der emphatischen Beschwörung des Befreiungspotentials eines fürsorglich-liebenden Miteinanders.

Kein Naturkitsch

Der emphatische Ton begleitet auch von Redeckers dritten Schritt der Definition von Bleibefreiheit: An der Hand feministischer Philosophie versucht die Autorin hier, die Befreiungseuphorie wortwörtlich zu erden, das heißt: herauszuarbeiten, dass die schöpferischen Freiheitkollaborationen, denen zuvor ihre Aufmerksamkeit galt, im Kontext einer Welt stattfinden, die ihnen vorausgeht. Von Redecker betont hier nicht nur, dass auch die nicht-menschliche Welt „Angebote zur Co-Schöpferischkeit“ (117) bereithält und insofern die Bewahrung der (Arten-)Vielfalt unmittelbar relevant ist für die menschliche Freiheit. Vor allem versucht sie, eine Sprache für die Abhängigkeit der menschlichen Freiheit von ökologischen Prozessen zu finden. Der Zugriff über den Zeit-Begriff ist hier besonders fruchtbar und entgegen dem Vorwurf führt er von Redecker nicht in „Naturkitsch“. So erliegt sie nie der Versuchung, eine menschliche „Sonderstellung“ zu negieren, im Gegenteil betont sie wertneutral, dass Künstlichkeit dem Menschlichen zugehört und sich darin eine menschliche Verantwortung begründet. Die von ihr propagierte „Kultur der Dankbarkeit“ (141) im Umgang mit der Natur ist insofern weder grundsätzlich technologiefeindlich noch romantisiert sie die Natur.

Lebenskunstphilosophie und politisches Manifest

Man könnte bis hier meinen, von Redeckers „Bleibefreiheit“ sei mehr Lebenskunstphilosophie als Politische Theorie und tatsächlich enthält es eine Menge lebenskunstphilosophischer Sätze (die in der ein oder anderen Form auf ein Maßhalten zielen und aus dem Kontext genommen schnell dem Verdacht der Banalität ausgesetzt sind, aber vielleicht nur, wenn man Philosophie an falschen Parametern misst). Der lebenskunstphilosophisch entfaltete Freiheitsbegriff hat in seiner sozialen und ökologischen Gestalt indes eine immanent politische Dimension. Von Redecker buchstabiert sie solchermaßen aus, dass ihr Buch (auch) zum politischen Manifest wird, und als solches hat es eine große Radikalität.

Die „höchste Potenzierung“ (108) der Befreiungskraft, die im Kern der Bleibefreiheit stecke, findet von Redecker im Generalstreik, über den sie mit Walter Benjamins revolutionärem Pathos nachdenkt. Es geht ihr also um nichts weniger, als dass wir in einer Gemeinschaftsanstrengung das gesamte gesellschaftliche Leben zum Stillstand bringen – um uns Zeit zu schaffen, über die Einrichtung der Gegenwart und einen (ökologischeren, sozial gerechteren) Neuanfang nachzudenken. Wobei der Generalstreik, wie von Redecker mit Benjamin betont, zugleich schon Vollzug dieses Neuanfangs wäre.

Über die dezisionistisch-blutige ideengeschichtliche Spur des Generalstreiks geht von Redecker hinweg, aber vielleicht findet sie ein Echo dort, wo ein Kapitel ihres Buches ausklingt mit dem Bild von Schwalben, die „in koordinierter Schwarmattacke einen Sperling aus den Krallen eines Sperbers befreien“ (106).

Zwischen Pathos und Reformprosa

Überhaupt, die Schwalben: Von Redecker verknüpft ihre theoretischen Überlegungen mit Naturbeobachtungen und privaten Anekdoten, und nie gewinnt man dabei den Eindruck, hier sei widerwillig den Wünschen einer Verlagsperson nach mehr Nahbarkeit und Unterhaltungspotential nachgekommen worden. Es gehört zu von Redeckers Philosophieren, mit ihrer Sprache die Fülle erfahrbar zu machen, um die es ihr geht. In ihrer Sprache findet programmatisch Ausdruck, dass sie als verkörperter Mensch für ein Publikum aus verkörperten Menschen zu schreiben versucht.

Zum Ausdruck kommt damit auch ein (Arendt‘sches) Verständnis von politischer Theorie als einer Disziplin, die nicht nur hilft, die Welt analytisch zu durchdringen, sondern die schon mit ihrer Sprache einen Beitrag dazu leisten will, eine Welt zu schaffen, in der jeder Mensch Raum und Zeit hat, Neuanfänge zu stiften. Heidenreich schreibt demgegenüber beratend für institutionalisierte Politik, die ihre eigene Zeit hat und vom verkörperten Menschen zu abstrahieren versucht (entsprechend begegnet einem bei ihm das „Weltverhältnis“ als „mentale Infrastruktur“ und „psychischer Haushalt“). Von Redecker hat den Anspruch, dem Erlebnis der ökologischen Freiheit als Gefühl den Weg zu bahnen, Heidenreich möchte Strukturreformen anleiten, die der Gegenwart einen sanften Spurwechsel in eine nachhaltigere Zukunft ermöglichen. „Skalierbare Praktiken“ spielt er dabei explizit gegen ein „Wolkenkuckucksheim“ (221) aus. Zwar benennt er nicht ausdrücklich, was für ihn unter das Zweite fällt, impliziert aber eine institutionenverachtende poststrukturalistische Theorie, die auf Ausnahmezustand und Revolution „von unten“ setzt, als einen Urheber solcher Wolkenkuckucksheime (227): In der Parallellektüre stellt sich unweigerlich die Frage, ob er „Bleibefreiheit“ mit entsprechendem Vorwurf belangen würde.

Die Bücher Heidenreichs und von Redeckers lösen gleichermaßen den Anspruch ein, der ihnen jeweils voransteht. So unterschiedlich er ist, vermögen sie doch beide zu leisten, was Politische Theorie im besten Falle leisten kann: Sie ermöglichen, über eine bessere Zukunft nachzudenken. Von Redecker würde diese Zukunft als Welt der Fülle bezeichnen, die in einer sozial-ökologischen Revolution eruptiv ins Sein kommt. Heidenreich würde von einer nachhaltigen Demokratie schreiben, die sich in einem Transformationsprozess „sanft“-sukzessive entwickelt. Nebeneinander gelesen erlauben die beiden Bücher, sich über die Kategorie der Zeit zwei unterschiedliche Paradigmen Politischer Theorie zu erschließen. In der Konsequenz halten sie gemeinsam dazu an, über die Aufgabe Politischer Theorie im und gegenüber dem „Anthropozän“ nachzudenken.


Anmerkung

 

[i] Heidenreich grenzt den republikanischen Ansatz Politischer Theorie knapp auch gegen einen postmodernen/poststrukturalistischen Ansatz ab, indem er argumentiert, der zweite setze vor allem auf die Neuverhandlung von Sprache, während es dem Republikanismus „auch um institutionelle, materielle und rechtliche Regelungen und deren Fernwirkungen“ (220) ginge. Heidenreich muss sich hier Verkürzung vorwerfen lassen, zumal postmoderne Ansätze zunehmend auch die materielle Dimension des Politischen berücksichtigen (von Redeckers Buch kann hierfür als Beispiel gelesen werden) und ihr institutionelles Defizit reflektieren.

CC-BY-NC-SA
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Bibliografische Angaben

Felix Heidenreich

Nachhaltigkeit und Demokratie. Eine politische Theorie

Berlin, Suhrkamp 2023

 

Eva von Redecker

Bleibefreiheit

Frankfurt am Main, S. FISCHER Verlag GmbH 2023

 

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