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Matthias Quent: Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät

20.03.2017
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Ulrich Heisterkamp

Matthias Quent trägt mit seiner Dissertation zur Aufklärung über die Radikalisierung des Rechtsextremismus bei, die in den Morden des NSU kulminierte. Bislang sei die Frage, welchen sinnstiftenden Rationalitäten diese Terrorgruppe folgte, wissenschaftlich nicht ausreichend beantwortet. Quent entwirft ein Pyramidenmodell der Radikalisierung, mit dem auch die Bedeutung der Sympathisanten berücksichtigt wird. Die Taten des NSU deutet er als einen vigilantistischen Terrorismus, der sich rassistisch rechtfertigt.

Eine Rezension von Ulrich Heisterkamp

Matthias Quent trägt mit seiner Dissertation zur Aufklärung über die Radikalisierung des Rechtsextremismus bei, die in den Morden des NSU kulminierte. Bislang sei die Frage, welchen sinnstiftenden Rationalitäten diese Terrorgruppe folgte, wissenschaftlich nicht ausreichend beantwortet. Quent entwirft ein Pyramidenmodell der Radikalisierung, mit dem auch die Bedeutung der Sympathisanten berücksichtigt wird. Die Taten des NSU deutet er als einen vigilantistischen Terrorismus, der sich rassistisch rechtfertigt.

Lange tappten Strafverfolgungsbehörden, Politik und Medienöffentlichkeit im Dunkeln bezüglich der zwischen 2000 und 2006 in ganz Deutschland verübten Morde an neun Migranten. Von der ‚Dönermord-Serie‘ war die Rede, in fataler Verkennung der politischen Dimension der Delikte. Die Polizei vermutete die Taturheberschaft im Milieu der organisierten Kriminalität, hatte vor allem die Türkenmafia im Visier – schließlich waren acht der allesamt männlichen Opfer türkischer Herkunft. Als Ende 2011 die Existenz des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) ans Licht kam, war von diesem Schreckenstrio nur noch Beate Zschäpe am Leben. Die enigmatische Thüringerin steht im Fokus des seit 2013 laufenden NSU-Strafprozesses in München.

Mit seiner Dissertation will Matthias Quent „die Aufarbeitung der Radikalisierung des Rechtsextremismus bis zum NSU-Terrornetzwerk unterstützen“ (15). Schließlich habe mit Bekanntwerden des NSU die Debatte über Rechtsextremismus hierzulande „einen neuen Zyklus [erreicht], der in seinen Ausmaßen die bisherigen Konjunkturen im vereinigten Deutschland weit übertrifft“ (13). Trotzdem, moniert der Autor und nennt das zu behebende Desiderat, sei wissenschaftlich bislang unterbelichtet, „welchen sinnstiftenden Rationalitäten die NSU-Terrorgruppe folgte“ (10).

Die Studie besteht aus zehn Kapiteln, wobei erst das siebte, mit gut 125 Seiten auch längste Kapitel über die Entstehung, Gruppenkultur und Rationalität des NSU die empirische Analyse eröffnet. Im umfassenden Theorieblock setzt sich Quent zuvor mit den Facetten von Radikalisierung als Schlüsselbegriff seiner Studie auseinander. Er skizziert ein heuristisches Pyramidenmodell der Radikalisierung. Während an der Spitze die kleine Gruppe der Terrorist*innen stehe, bilde der Sympathisantenkreis der militanten Aktivist*innen die Pyramidenbasis. Graduell nehme dabei von unten nach oben „mit jedem Schritt der Radikalisierung die Größe der Gruppe von Menschen ab, die den Weg des gesteigerten Engagements mitgehen“ (43) – zum Glück, möchte man hinzufügen. Anschließend leuchtet Quent die Bedeutung von Gruppen als Scharnier zwischen Gesellschaft und Individuum aus. Ob Clique, Subkultur oder soziale Bewegung, jedwede soziale Gruppenformation besitze „(mindestens) einen Zweck, der ihre Mitglieder zusammenbringt“ (59). Bei terroristischen Gruppen stehe neben den politischen Zielen immer auch das eigene Überleben im Vordergrund. Werde diese Zielerreichung schwieriger, steige die Risikobereitschaft. Auch nehme die Gewaltintensität im Kampf für die Gruppenziele zu.

Die Bluttaten des NSU deutet Quent als „vigilantistischen Terrorismus“, dessen Charakteristika er in einem gesonderten Kapitel entfaltet. So seien vigilantistische Gewalttäter „nichtstaatliche Akteure, die mit illegalen Mitteln (vorgeblich) im Namen einer Etabliertengruppe gegen Außenseitergruppen kämpfen“ (158). Als Etabliertengruppe firmiert im völkisch verqueren Weltbild der NSU-Rassisten die einheimische deutsche Bevölkerung. Als (vorgeblich) ethnisch und kulturell absolut homogene Einheit werde sie von der Außenseitergruppe der Zuwanderer in ihren Überlebenschancen bedroht. Der NSU-Terrorismus sei folglich „zu deuten als ein Kommunikationsprozess zwischen Rechtsextremen und migrantischer Bevölkerung“ (280). Die perfide Absicht dahinter lautet, nicht primär die Angegriffenen selbst, sondern vielmehr die von ihnen repräsentierte Bevölkerungsgruppe in letzter Konsequenz zur Kapitulation – im konkreten Falle der Migrant*innen: zum Verlassen Deutschlands – zu zwingen.

Für die soziale Wirklichkeit, in der sich der Fanatismus der NSU-Protagonisten ausprägen konnte, führt Quent den Begriff der Dissonanzgesellschaft ein. So versuchten rassistische Gewaltgruppen, „die reale Distanz zwischen den egalitären Versprechungen der Demokratie auf der einen und den faktischen Ungleichwertigkeitsvorstellungen auf der anderen Seite im Alltag [zu] besetzen“ (81). Im Sozialisierungsprozess des NSU-Trios im Ostdeutschland der (Nach-)Wendezeit „war die Distanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der neuen demokratischen Ordnung [...] für Heranwachsende besonders ausgeprägt, begünstigt durch die fehlende Kohärenz offizieller Deutungen der Autoritäten“ (83 f.). Für Rechtsextreme sei die Vorstellung einer natürlichen, durch Abstammung, Herkunft, Religion, Hautfarbe oder Kultur bedingten Ungleichwertigkeit von Menschen konstitutiv. Im Unterschied zur Bevölkerungsmehrheit werde für Rechtsextreme eine Ungleichwertigkeitsvorstellung wie der Rassismus allerdings „zum zentralen Faktor dafür, wie Gesellschaft verfasst sein sollte“ (102). Ihr gewalttätiger Hass entlädt sich dann gegen „machtschwache Kollektive“ (108) wie eben Migrant*innen, die zum Sündenbock werden. Auf diese Weise erzielt die rassistische Gewalt „ihre tatsächliche Wirkung in der Einschüchterung und Vertreibung ihrer kollektiven Opfer“ (128).

Im oben bereits erwähnten siebten Kapitel als Schwerpunkt der empirischen Untersuchung zeichnet Quent die Genese des NSU und dessen Abdriften in den Untergrund kenntnisreich nach. Er wertet dazu zahlreiche behördliche Quellendokumente aus. Die Klandestinität, aus der heraus die Mordkampagne verübt wurde, sei für den NSU „mehr als ein aufgezwungenes Versteckthalten“ (277) gewesen. Sie habe identitätsprägend und sinnstiftend gewirkt, worauf schon die Selbstbetitelung (‚Untergrund‘) hinweise. Nach einem weiteren, sehr aufschlussreichen empirischen Kapitel mit Skizzen zur Radikalisierungskarriere des NSU-Trios greift Quent in der Zusammenfassung das Pyramidenmodell der Radikalisierung wieder auf. Die vigilantistische Untergrundgruppe NSU stehe dabei an der Pyramidenspitze, ihre unweigerliche „Isolation im Untergrund“ (320) sei als Extremfall der gruppendynamischen (Negativ-)Entwicklung zu werten. „25 Jahre nach der Vereinigung sind rassistische Bewegungen in der Bundesrepublik wieder im Aufwind“ (328), so Quent nüchtern. In Zeiten wachsender innenpolitischer Polarisierung infolge der sogenannten Flüchtlingskrise ist die Thematik seiner analytisch gehaltvollen, konzeptionell durchdachten und lesenswerten Studie brisanter denn je.

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