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Lucio Baccaro, Mark Blyth, Jonas Pontusson (Hrsg.): Diminishing Returns. The New Politics of Growth and Stagnation

25.07.2023
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Autorenprofil
Dr. Max Lüggert
Oxford, Oxford University Press 2022

Der Sammelband blickt mittels internationaler Fallbeispiele auf das Phänomen wirtschaftlicher Stagnation und auf die wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung: Von China über Europa bis hin zu den Vereinigten Staaten werden hierbei strukturelle Veränderungen, die Auswirkungen akuter Krisen sowie jeweilige volkswirtschaftliche Unterschiede und Entwicklungslinien beleuchtet. Kleiner Wehmutstropfen bei der Lektüre, so unser Rezensent Max Lüggert: Das dabei zusammengetragene Wissen erschließe sich in einigen Beiträgen zunächst vor allem fachlich bereits versierten Leser*innen. (tt)


Eine Rezension von Max Lüggert

Die wirtschaftliche Entwicklung in den Industriestaaten war in den vergangenen Jahren von mehreren Schocks geprägt. Als die Folgen der Covid-19-Pandemie langsam abklangen, verursachte der russische Überfall auf die Ukraine neue Verwerfungen. Somit sind Staaten und Unternehmen mit verschiedenen strategischen Unsicherheiten konfrontiert. Wirtschaftliches Wachstum ist unter diesen Umständen also immer schwieriger zu erzielen, was die Frage aufwirft, welche anderen Wege es gibt, um Wirtschaftswachstum zu ermöglichen. Lucio Baccaro, Mark Blyth und Jonas Pontusson befassen sich in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband mit dieser Frage und tragen dabei eine Vielzahl von politisch-ökonomischen Perspektiven zusammen.

Im einleitenden Beitrag des Bandes stellen die Herausgeber kurz ihr Erkenntnisinteresse vor. Als Grundannahme steht bei ihnen die These, dass kapitalistische Systeme zu ihrer Legitimation maßgeblich auf die Verbesserung der materiellen Lage weiter Teile der Bevölkerung angewiesen sind und dass diese Verbesserung immer schwieriger zu erreichen ist. Die zwei zentralen Gründe für die derzeitige Stagnation sind aus Sicht der Herausgeber die Umstände, dass Technologieunternehmen für ihr Wachstum weniger Kapital erfordern als dies in der Vergangenheit bei anderen Industriezweigen notwendig war und dass eine höhere Lebenserwartung mit einem höheren Bedarf an Ersparnissen einhergeht. Diese zwei Gründe stehen also wohlgemerkt in keinem Zusammenhang mit den akuten Krisen der vergangenen Jahre und sind daher als strukturelle und langfristig relevante Probleme zu verstehen. Einleitend formulieren die Herausgeber zudem eine Kritik am „Varieties of Capitalism“-Ansatz, der aus ihrer Sicht zu sehr auf angebotsorientierte Maßnahmen setze. Stattdessen sollen in dem Band die verschiedenen Wachstumsmodelle herausgearbeitet werden, derer sich unterschiedliche Staaten bereits bedienen oder sich möglicherweise künftig bedienen könnten – alles unter der Annahme eines Staates, der aktiver in das wirtschaftliche Geschehen eingreift.
Alison Johnston und Matthias Matthijs widmen sich in ihrem Beitrag der Situation in der Eurozone. Vor der Eurokrise ab 2010 konnten in der Wirtschafts- und Währungsunion verschiedene Wachstumsmodelle durchaus koexistieren; mit dem Versiegen der weltweiten Kapitalströme in Folge der Weltfinanzkrise war dies jedoch nicht mehr möglich. Johnston und Matthijs stellen heraus, dass die wirtschaftspolitischen Regeln der Eurozone in Reaktion auf die Krise so angepasst wurden, dass nun ein exportorientiertes Wachstumsmodell zur Norm wurde – maßgeblich vorangetrieben durch Deutschland und weitere nördliche Staaten der Eurozone. Maßnahmen zur Ankurbelung der Binnennachfrage traten dagegen in den Hintergrund und wurden durch die angepassten wirtschaftspolitischen Regeln teilweise sogar sanktioniert. Ein auf Export fußendes Wachstumsmodell kann jedoch an gewisse Grenzen stoßen. Zunächst einmal ist es praktisch unmöglich, dass alle Staaten zeitgleich für ihr Wachstum auf Exporte setzen. Und im konkreten Fall der EU ist das präferierte Wachstumsmodell auf eine Weltordnung angewiesen, die von Freihandel und der weitgehenden Akzeptanz rechtsstaatlicher Normen geprägt ist. Angesichts geopolitischer Risiken und protektionistischer Tendenzen ist fraglich, wie viel von dieser Weltordnung noch übrig ist. Die Covid-19-Pandemie hat hier zum Teil zu einem Kurswechsel geführt: So berücksichtigt die Wirtschaftspolitik der Eurozone nun auch wieder Maßnahmen zur Steigerung der Binnennachfrage und es gibt erste Schritte hin zu einer gemeinsamen Schuldenaufnahme.

Ein weiterer großer Wirtschaftsraum, nämlich China, wird im Beitrag von Yeling Tan und James Conran näher betrachtet. Angesichts der schieren Größe des Landes, sind in China zwei Wachstumsmodelle erkennbar: an der Küste ein Fokus auf Exporte und im Landesinneren eine starke Bedeutung staatlicher Investitionen. Diese Zweigleisigkeit erlaube China eine gewisse Flexibilität – direkt nach dem WTO-Beitritt im Jahr 2001 nahm die Bedeutung der Exporte zu, nach der Finanzkrise 2008 wurden jedoch umfassende Konjunkturprogramme mit Investitionen im Inland aufgelegt. Für ein autoritäres Land wie China ist es auch nicht verwunderlich, dass staatliche Akteure beide Wachstumsmodelle kontrollieren. Im Export können ausländische Firmen oft nur im Rahmen von Joint Ventures mit China kooperieren und die Investitionen im Inland werden maßgeblich durch staatliche Unternehmen und Banken mitgetragen. Auch wenn die chinesische Wirtschaft in den vergangenen Jahren enorm gewachsen ist, sehen Tan und Conran dennoch Risiken. So seien durch diverse Investitionen im Inland Überkapazitäten entstanden, die von der Zentralregierung in Peking schwer zu kontrollieren seien. Und auch im Export könne es durch ungünstige politische Konstellationen schwierig werden, wie der Handelsstreit mit den Vereinigten Staaten während der Amtszeit von Donald Trump zeigte.

Einen Gegenentwurf zur Eurozone und China bilden die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich, in denen kreditfinanzierter Privatkonsum eine wichtige Wachstumsstütze ist, wie Alexander Reisenbichler und Andreas Wiedemann in ihrem Beitrag herausstellen. In beiden Staaten haben Privatpersonen relativ leichten Zugang zu Krediten und können auf diese Art und Weise auch in Zeiten von stagnierendem oder sinkendem Einkommen einen gewissen Lebensstandard beibehalten. Privater Kredit dient vor diesem Hintergrund auch als ein Ersatz für wohlfahrtsstaatliche Leistungen, die vor allem seit den Regierungszeiten von Ronald Reagan und Margaret Thatcher in beiden Staaten reduziert wurden. Die Kehrseite dieser Entwicklung komme jedoch in einer inhärenten Instabilität zum Vorschein, die sich insbesondere in Krisenzeiten ergibt. Dass diese Form von „privatisiertem Keynesianismus“ (234) jedoch beibehalten werde, sei auch der politischen Einflussnahme der Finanz- und Versicherungsbranche geschuldet. So zeigen Reisenbichler und Wiedemann, dass die Finanz- und Versicherungslobby in den USA in Bezug auf ihre Ausgaben an dritter und vierter Stelle stehen. Zudem ist die Förderung des Immobilienmarktes eines der wenigen verbliebenen politischen Themen, bei dem noch weitgehende Einigkeit zwischen der Demokratischen und der Republikanischen Partei bestehe.

Der von Baccaro, Blyth und Pontusson herausgegebene Sammelband widmet sich in umfassender Weise dem Problem wirtschaftlicher Stagnation. Eine Vielzahl von Fallstudien aus unterschiedlichen Weltregionen sowie allgemeine volkswirtschaftliche Betrachtungen ergänzen sich inhaltlich gut. Der Band eignet sich jedoch nicht unbedingt als Einstieg in dieses Thema, sondern bietet vor allem für bereits mit dem Thema vertraute Leserinnen und Leser einen sachlichen Mehrwert. So werden viele Beiträge an einzelnen Stellen eher technisch dargestellt und sind ohne Grundkenntnisse wirtschaftspolitischer Zusammenhänge nicht ohne Weiteres verständlich. Darüber hinaus ist es zwar berechtigt und notwendig, aktuell vorherrschende volkswirtschaftliche Paradigmen kritisch zu hinterfragen, alternative Ansätze werden jedoch nicht wirklich detailliert ausgeführt. Das grundsätzliche Argument, Wachstum vor allem wieder durch eine Erhöhung der Lohnquote zu generieren, ist sicherlich diskussionswürdig – die Erläuterungen dazu bleiben im Band jedoch oft etwas oberflächlich. Trotzdem bietet der Band einen facettenreichen Einblick in die wirtschaftlichen Herausforderungen, denen sich Staaten derzeit und in Zukunft stellen müssen.

 

CC-BY-NC-SA
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