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Branko Milanović: Visions of Inequality. From the French Revolution to the End of the Cold War

21.12.2023
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Autorenprofil
Dr. phil. Tamara Ehs
Cambridge/London, Harvard University Press 2023

Für unsere Rezensentin Tamara Ehs hat Branko Milanović in seinem jüngsten Buch eine „unverzichtbare Chronik für unser Verständnis von Ungleichheit“ vorgelegt. Milanovićs kontextualisierende Untersuchung der Ideen einschlägiger Ökonomen führt von Francois Quesnay über Karl Marx bis zum Kalten Krieg, in der die Ungleichheitsforschung laut Milanović aufgrund einer „kulturellen Hegemonie der Reichen“ vernachlässigt wurde. Der Fokus auf sozioökonomische Ungleichheit sei, so fügt Ehs hinzu, insbesondere für die aktuellen Debatten um die Repräsentationskrise der Demokratie anschlussfähig. (jm)


Eine Rezension von Tamara Ehs

Die Ideengeschichte der politischen Ökonomie finde in den Curricula selten die ihr gebührende Aufmerksamkeit; weder die Wirtschafts- noch die Politikwissenschaften räumten den klassischen Denkern genügend Platz ein: Diese Diagnose nimmt Branko Milanović in Visions of Inequality zum Ausgangspunkt seiner Forschungsfrage: Wie dachten die einflussreichsten Ökonomen vom 18. Jahrhundert bis in die Zeit des Kalten Krieges über Einkommensverteilung und die darauf basierende Ungleichheit im Volk? Milanović, einst Chefökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank, hat sowohl ein Studienbuch als auch ein Nachschlagewerk für all jene verfasst, die die zeitgenössische Ungleichheitsforschung aus der Geschichte heraus verstehen wollen. Der Autor nimmt sechs Ökonomen in den Blick, beginnend mit François Quesnay als dem Begründer der politischen Ökonomie. Dieser habe Adam Smith und David Ricardo beeinflusst, die wiederum Karl Marx studierte. Im Anschluss an Vilfredo Paretos Entgegnung auf Marx widmet sich Milanović schließlich Simon Smith Kuznets als wichtigsten Vertreter seines Faches im 20. Jahrhundert.

An jene großen Denker anschließend erläutert er die jahrzehntelange intellektuelle Leerstelle in der Ungleichheitsforschung im und durch den Kalten Krieg. Dabei behandelt er auch das Problem der disziplinären Aufspaltung: „The breakup of economics into many subfields, where inequality is a derivative phenomenon, also helped pave the way for the dissolution of inequality studies” (253). Schon Kuznets hatte sich im Jahr 1955 dafür ausgesprochen, Ungleichheit nicht nur in den Wirtschaftswissenschaften zu analysieren, sondern sie als Studienobjekt von politischer Ökonomie in den Sozialwissenschaften zu verstehen, war aber weitestgehend ungehört geblieben. Neben objektiven wirtschaftlichen Faktoren wie hohen Wachstumsraten, dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates und der darauf basierenden allgemeinen Überzeugung, dass Klassenunterschiede nun der Vergangenheit angehören würden, lag es laut Milanović vor allem an ideologischen Eingriffen in die Forschung(sförderung), dass die Ungleichheitsforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend zum Erliegen kam. In den USA der McCarthy-Ära waren marxistische Ökonom*innen von den Universitäten vertrieben worden; zudem speiste „billionaire money“ (255) Think-Tanks und Medien und nahm dadurch Einfluss auf Forschungsgegenstand und Berichterstattung: „High income inequality – that is, greater economic power of the rich – ensures greater influence for the policies that are pro-inequality, pro-business, or that aim to sideline income distribution topics“ (255). Jene intellektuelle Hegemonie der Reichen nennt Milanović „Cold War economics“ (256) und widmet ihr einen Großteil seines Buches. Er kommt zu dem Schluss, dass alle interessanten Ansätze der Ungleichheitsforschung von Mitte der 1960er bis in die 1990er Jahre „fell short of what desirable and useful studies in income distribution should have done“ (279). Zwar erkennt er an, dass Neomarxist*innen und heterodoxe Ökonom*innen aus dem globalen Süden wichtige Beiträge geleistet hätten, stellt aber zugleich fest, dass keine*r von ihnen die Hegemonie jener Jahrzehnte durchbrechen konnte.

Neben der spannenden Aufbereitung der klassischen Ideengeschichte sind es vor allem jene abschließenden Kapitel, in denen der Autor seine eigene wissenschaftliche Entwicklung aus zeitgenössischer Perspektive reflektiert, die die delikaten politischen Implikationen des Forschungsgegenstandes enthüllen. Für viele Studienbereiche gilt, dass angesichts der Überhandnahme von Drittmittelprojekten nur erforscht werden kann, was Förderung erhält – und dies wiederum unterliegt nicht nur Moden, sondern auch politischen Interessen. Doch in kaum einer Disziplin hat dies derart weitreichende soziale Auswirkungen wie in der politischen Ökonomie. Milanović ruft diese Tatsache immer wieder ins Bewusstsein und zeigt auch bei seiner Darstellung von Quesnay bis Kuznets stets deren politische und ideologische Einbettung auf. Er hinterfragt jeweils die Datenlage und historische Verankerung ihrer Studien und stellt sie in Kontext – vom amerikanischen Unabhängigkeitskrieg über die Französische Revolution, die Napoleonischen Kriege, das Revolutionsjahr 1848 bis zum Kalten Krieg, denn: „Their works mirrored the conditions not only of their times but of the places where they were born, lived, traveled, and worked“ (214). Nicht zuletzt in dieser Hinsicht eröffnet das Buch faszinierende Hintergrundinformationen für Politikwissenschaftler*innen, die an der historischen Perspektive der politischen Ökonomie interessiert sind. Milanović ist sich aber auch zahlreicher Einschränkungen und Auslassungen bewusst, die seine Auswahl bewirkt: So nahm er weder die Merkantilisten noch die Vertreter*innen der lateinamerikanischen dependencia Schule in seine Studien auf; und wer explizit nach Ökonominnen oder auch nur nach der Erwähnung feministischer Ökonomie sucht, geht ebenso leer aus. Davon abgesehen liefert Milanović jedoch eine unverzichtbare Chronik für unser Verständnis von Ungleichheit und nimmt die Leser*innen auf seine Reise durch die Ideengeschichte mit.

Er liefert historische Einsichten aus der politischen Ökonomie, die auch für gegenwärtige Überlegungen von Interesse sind, etwa im Bereich der Demokratieforschung: Da sich sozioökonomische Ungleichheit auf die politische Partizipation auswirkt und in der Folge Repräsentation und Responsivität beeinflusst, sind zur Einordnung aktueller Daten Kenntnisse von der Marx ‘schen Klassentheorie bis zur Kuznets-Kurve unabdingbar. Zudem belegen immer mehr Studien, dass das politische System nur unzureichend auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist, weil es nicht in gleichem Maße auf die Anliegen aller sozialen Klassen antwortet. Die politischen Entscheidungen sind stark zugunsten der oberen Berufs- und Einkommensgruppen verzerrt, zumal die obersten zehn Prozent der Bevölkerung auch gar nicht auf ihre Stimme bei Wahlen angewiesen sind. Denn sie pflegen engen persönlichen Kontakt zu Politiker*innen und nutzen ihr Vermögen, um Kandidat*innen, Parteien, Wahlkämpfe oder meinungsbildende Medien und sogar Forschungseinrichtungen zu finanzieren, wie Branko Milanović in Bezug auf die Finanzierung von Ungleichheitsstudien herausstreicht. Zunehmende Ungleichheit schlägt sich schließlich in der Demokratiezufriedenheit und im Zuspruch zu den Institutionen der repräsentativen Demokratie nieder. Die Krise der Repräsentation manifestiert sich heute insbesondere in der untersten sozioökonomischen Klasse. Seit der Finanz- und Staatsschuldenkrise 2008 steigt nicht nur die ökonomische Ungleichheit an, sondern auch die Befassung mit dem Thema. Milanović hebt allen voran Thomas Pikettys umfangreiche Arbeit hervor und betont die deutliche Verbesserung der Datenlage im Vergleich zu früheren Jahrhunderten. Deshalb schwebt ihm ein neuer Zugang für seinen Forschungsbereich in globaler Perspektive vor, eine „neo-Marxist linkage between (systemic) inter-country inequality and within-national inequalities“ (297). Somit verweist Milanović auf sein aktuelles Forschungsinteresse und lässt erahnen, wovon sein nächstes Buch handeln könnte.

CC-BY-NC-SA
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Weiterführende Links

Blog von Branko Milanovic

globalinequality  

 

Externe Veröffentlichungen

Christoph Butterwegge / 02.02.2023

Warum ist Ungleichheit eine Gefahr für unsere Demokratie, Christoph Butterwegge?

Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Youtube

 

Branko Milanovic & Arjun Jayadev / 2020

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