Marianne Kneuer / Helen V. Milner (Hrsg.): Political Science and Digitalization. Global Perspectives
29.01.2020Die Digitalisierung verändert das Grundverständnis von Politik grundlegend. Ob soziale Medien, der Zugriff auf Satellitenbilder in Echtzeit oder die Verfügbarkeit von Wissen in Form von Studien und behördlichen Entscheidungen über das Internet, all dies hat die Art, Politik zu machen, verändert. Zudem fallen im Politikbetrieb ungleich mehr Daten an, als dies in früheren Dekaden der Fall war. So werden bürokratische Entscheidungen online veröffentlicht, politische Texte werden über soziale Medien verbreitet und auch die Reaktionen der Bevölkerung auf diese Informationen hinterlassen Datenpunkte, die ausgewertet werden können. Für die Politikwissenschaft stellen sich daher vor allem drei Fragen: Wie beeinflusst die Digitalisierung das Demokratieverständnis? Welche Regierungsstrukturen werden benötigt, um mit den negativen Folgen der Digitalisierung umzugehen? Wie wird die digitale Revolution die Weltpolitik beeinflussen?
Doch um diese Fragen zu beantworten, reichen aktuelle wissenschaftliche Lehr- und Forschungsmethoden kaum aus. Hier setzt der Sammelband an. Die Autor*innen gehen den Fragen nach, wie mit den neuen und enormen Datenmengen in Politik- und Sozialwissenschaften umgegangen werden soll. Wie müssen sich Lehre und Forschung in den beiden Disziplinen ändern? Welche neuen Fähigkeiten sind in den Wissenschaften zukünftig vonnöten?
Der Sammelband entstand im Rahmen der Konferenz „Political Science in the Digital Age“, die 2017 in Hannover abgehalten wurde. Die Vortragenden wurden gebeten, sich zu den Themen Lehre, Forschung und landesspezifische Rahmenbedingungen zu äußern. Im Ergebnis entstanden 20 Beiträge aus diversen Ländern, darunter Brasilien, Peru, die USA, Finnland, Spanien, Deutschland und Südafrika. Die in die Regionen Amerika, Europa, Asien und Afrika gegliederten Beiträge beschreiben den Umgang der Politikwissenschaft mit der Digitalisierung in den jeweiligen Ländern.
In den südamerikanischen Ländern spielt Digitalisierung in der Lehre kaum eine Rolle. In Bolivien und Peru beispielsweise gibt es keine staatlichen Bemühungen, um Universitäten mit digitalen Technologien auszustatten. In anderen Ländern, wie zum Beispiel Paraguay, ist zwar das Equipment verfügbar, wird seitens der Professoren jedoch nicht genutzt. Auffällig ist der Unterschied zwischen staatlichen und privaten Universitäten. Während private Hochschulen E-Learning-Plattformen nutzen, um ihre Studierenden bestmöglich zu erreichen, finden solche Maßnahmen an staatlichen Universitäten nicht statt. Auch im Bereich Forschung werden digitale Hilfsmittel kaum angewendet. Lediglich durch internationale Kooperation, wie sich beispielsweise in Uruguay zeigt, halten digitale Analysewerkzeuge Einzug in die Politikwissenschaft.
Ein gegenteiliges Bild zeigt sich in den USA. In Lehre und Forschung werden digitale Techniken und Methoden konsequent und ausgiebig genutzt, wobei ein ausgeprägtes Missverhältnis zwischen staatlichen und privaten Bildungseinrichtungen zu verzeichnen ist. Die Eliteuniversitäten nutzen moderne Techniken deutlich intensiver als öffentliche Hochschulen. Hier spiegelt sich das Missverhältnis in der Ausstattung mit finanziellen Ressourcen wider.
In Europa zeigt sich ein differenziertes Bild. Auf der einen Seite befindet sich Belgien. Das Land nutzt die Digitalisierung weitläufig für Forschung und Lehre. So werden Lerninhalte als Podcast vermittelt oder wissenschaftliche Arbeiten auf Blogs gepostet. Auf der anderen Seite befindet sich Finnland. Obwohl das Land ein Vorreiter in digitaler Technologie ist, spielen digitale Hilfsmittel an den Universitäten kaum eine Rolle. Die anderen europäischen Länder ordnen sich zwischen diesen beiden Extremen ein. Allerdings gibt es regionale Unterschiede. So gilt Spanien nicht als Land mit hoher digitaler Kompetenz. Jedoch wurde die erste Online-Universität in Spanien gegründet. Aber auch in anderen europäischen Ländern existieren Besonderheiten. So ist es in Deutschland und Großbritannien auffällig, dass es an digitaler Infrastruktur an den Hochschulen mangelt.
Auch in den asiatischen Ländern, Japan und Süd-Korea, spielt die Digitalisierung in der Politikwissenschaft eine untergeordnete Rolle. Zwar verfügen die Hochschulen beider Länder über eine gute digitale Infrastruktur. Diese wird jedoch kaum für Lehre und Forschung genutzt. Gerade weil beide Gesellschaften stark digitalisiert und technologisiert sind, wäre ein anderes Ergebnis zu erwarten gewesen.
In den beiden afrikanischen Länderbeispielen Südafrika und Tunesien ist die Digitalisierung an den politikwissenschaftlichen Fakultäten bislang kaum angekommen.
Die überraschende Erkenntnis aus den 20 länderspezifischen Beiträgen ist, dass die Digitalisierung einer Gesellschaft keine Rückschlüsse auf die Nutzung von digitalen Technologien in der Politikwissenschaft beziehungsweise an den Hochschulen zulässt. In den meisten Ländern fehlt eine Digitalisierungsstrategie für Universitäten. Die Bedeutung der Digitalisierung, vergleichbar mit der Industriellen Revolution, wurde vor allem Bildungsbereich noch nicht verstanden. Die Nutzung von innovativen Unterrichtsmethoden wie Podcasts, Videos oder Online-Kursen lässt sich meist auf die Initiative einzelner zurückführen. Im Bereich der Forschung fehlt es den Wissenschaftler*innen häufig an Know-how.
Der Sammelband bietet einen sehr gelungenen und gut lesbaren Überblick über den Einsatz von digitalen Hilfsmitteln in Forschung und Lehre für die Politikwissenschaft. Die Beiträge sind gut lesbar und mit einer Länge von 8 bis18 Seiten erfreulich kompakt. Da sich das Buch mit einem recht „spitzen“ Thema beschäftigt, richtet es sich vor allem an Politikwissenschaftler*innen, weniger an Einsteiger*innen.