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Kongressbericht: Politische Theorie in Zeiten der Ungewissheit (27.-29.09.2023) - Mittwoch

05.10.2023
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David Kirchner, M.A.
An der der Universität Bremen fand unter dem Titel "Politische Theorie in Zeiten der Ungewissheit" zum ersten Mal ein internationaler Kongress der Theoriesektion der DVPW statt.

Vom 27. bis zum 29. September 2023 fand in Bremen unter dem Titel “Politische Theorie in Zeiten der Ungewissheit” ein Kongress der Sektion “Politische Theorie und Ideengeschichte” der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft statt. Neben zahlreichen Vortragenden und Besucher*innen aus dem In- und Ausland haben auch unsere Redakteure David Kirchner und Jan Meyer die Reise nach Bremen angetreten und berichten hier in zwei Teilen über die Kongresstage. In diesem Beitrag schildert David Kirchner seine Eindrücke vom ersten Tag. (jm)


Ein Konferenzbericht von David Kirchner

Die Unsicherheit genießt einen sehr unterschiedlichen Ruf. Wird sie im Alltagsverstand, aber auch in der Politik und in Teilen der empirischen Sozialwissenschaften häufig negativ als Synonym zu ökonomischer Prekarität oder unerwünschtes Ergebnis von Verunsicherung verstanden, nimmt die Politische Theorie (und in ihr insbesondere die radikalen Demokratietheorie) auch den demokratischen Horizont von Unsicherheit in den Blick. Wenn sich politische Theoretiker*innen über Unsicherheit austauschen, verorten sie diese weder auf der Alltagsebene (Wann fährt nochmal mein Zug morgen?) noch auf der persönlichen Identitätsebene (Ich fühle mich durch Conchita Wurst in meiner Identität als Mann verunsichert) und auch nicht auf der ökonomischen Ebene (Wie soll ich nach dem Ende der Befristung meine Miete bezahlen?). Stattdessen betont die Politische Theorie, dass Unsicherheit, verstanden als eine grundlegende Ungewissheit über den künftigen Gang der Dinge, wichtiger Bestandteil jedes Nachdenkens über Politik sein muss. So grundsätzlich als Zukunftsoffenheit verstanden, überschreitet die Unsicherheit alle bekannten politischen Grenzziehungen: Schließlich haben weder Marxist*innen noch Libertäre, weder Autokrat*innen noch Demokrat*innen die berühmte Glaskugel, um in die Zukunft zu blicken. Und dennoch gibt es so etwas wie eine spezifisch demokratische Unsicherheit. Schließlich heißt Demokratie nichts anderes als das Versprechen, alles auch ganz anders machen zu können, wenn man denn möchte. Insofern ist das Nicht-Festgelegt-Sein der künftigen Politik das vielleicht wichtigste demokratische Credo.

Als eine der drei klassischen Teildisziplinen der Politikwissenschaft erfüllt die politische Theorie in erster Linie eine „Reflexionsfunktion“, und das nach Buchstein/Jörke (2007) auf insgesamt drei Ebenen: erstens auf der fachinternen Ebene in Bezug auf die theoretischen Grundlagen des gesamten Faches, zweitens in Form einer Reflexion dieser Grundlagen in Überzeugungen aus dem politischen Alltag sowie der politischen Praxis und drittens auf der Ebene zukünftiger politischer Handlungsoptionen. In Bezug auf das Kongressthema „Unsicherheit“ waren es vor diesem Hintergrund die beiden letzteren Reflexionsaufgaben, deren sich die Vortragenden angenommen haben: Unsicherheit, verstanden als eine grundlegende ontologische (Was ist?) und epistemologische (Was können wir wissen?) Unsicherheit gilt gewissermaßen als Grundkonstante oder, systemtheoretisch gesprochen, als Umwelt, in der jede Form von Politik zwangsläufig operieren muss.

Angesichts der zahlreichen Krisen der Gegenwart, insbesondere der drohenden Klimakatastrophe, sind Gesellschaften heute in ganz existenzieller Zuspitzung mit Fragen nach der Offenheit der Zukunft konfrontiert und so hat die Sektion „Politische Theorie und Ideengeschichte“ der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) dem Thema Ungewissheit einen ganzen Kongress gewidmet. Im Kontrast zu den halbjährlich stattfindenden Sektionstagungen, die in einem kleineren Rahmen stattfanden, handelt es sich hier um den ersten großen Kongress mit einer Vielzahl an Panels zu Themen, die die Breite des Fachs abzubilden in der Lage sind. Dementsprechend war es uns nicht möglich, alle Panels zu besuchen und wir mussten eine Auswahl treffen. Diese kann zwar nicht den Anspruch erheben, den Kongress als Ganzen zu repräsentieren. Dennoch möchten wir hier einen Einblick geben, wie das Thema „Unsicherheit“ von den Vertreter*innen der Politischen Theorie diskutiert wurde. Wir haben uns dabei auf zwei Kongresstage fokussiert: In diesem Artikel berichtet David Kirchner vom ersten Tag (Mittwoch), in einem zweiten Beitrag wird Jan Meyer einen Einblick in die Inhalte des zweiten Kongresstags (Donnerstag) geben.


Die Zukunft der Demokratie jenseits der Souveränität

In seiner einleitenden Keynote „Democracy 3.0: Beyond sovereignty?“ skizzierte Yves Sintomer (Paris) die großen Linien der liberal-demokratischen Misere, die sich vor dem Hintergrund einer ungewissen, aber sich verdüsternden Zukunft immer deutlicher abzeichne. Angesichts der Verschärfung der ökologischen, ökonomischen und sozialen Krisen bleibe lediglich die Hoffnung auf eine „demokratische Revolution“, die mit den zentralen Prinzipien und Kontaminationen der attischen Demokratie (1.0) als auch der repräsentativen Demokratie westlicher Provenienz (2.0) breche. Die „Democracy 3.0“ als eine „reale Utopie“ bleibt bei Sintomer in ihrer konkreten Ausgestaltung ausdrücklich unbestimmt. Er schlägt jedoch einige Maßnahmen vor, die den Bruch mit der bestehenden Ordnung einleiten sollen. Zentral sei insbesondere die Demokratisierung von Global Governance jenseits des Begriffs der Souveränität. Dazu gehöre insbesondere eine starke Partizipation marginalisierter und zivilgesellschaftlicher Gruppen bei globalen Entscheidungsprozessen, Reformen internationaler Organisationen zugunsten des Globalen Südens, ein globales System der Gewaltenteilung sowie ein erweitertes (stärker sozial ausgerichtetes) Konzept der Menschenrechte. Allerdings bleibt unklar, ob diese Maßnahmen nur eine Ergänzung nationalstaatlicher demokratischer Strukturen darstellen oder diese gänzlich ersetzen sollen. Stattdessen verwendet Sintomer den unbestimmten Begriff der reconfiguration, um das Verhältnis von alten und neuen (noch zu verwirklichenden) Anteilen der Demokratie zu beschreiben. Die Nähe einer solchen Unbestimmtheit zur Beliebigkeit liegt auf der Hand und wird in Bezug auf Sintomers Demokratiebegriff besonders deutlich. Um jeden Verdacht der Essentialisierung auszuräumen, verzichtet er schlicht darauf, überhaupt so etwas wie Kriterien für eine Demokratie festzulegen. Diese Entscheidung Sintomers ist jedoch demokratietheoretisch problematisch: Denn das Ergebnis ist ein Relativismus, der von demokratischen Verfahren nichts wissen möchte und für den die Demokratie lediglich ein leerer Signifikant ist, auf den sich unterschiedlichste Gruppen in ihrem Kampf um Hegemonie berufen können. Insofern ist es nur folgerichtig, dass Sintomer auf Nachfrage den Parteienwettbewerb nicht als notwendiges Merkmal einer Demokratie betrachten will und Schwierigkeiten hat, normative Unterschiede zwischen den politischen Systemen Indiens und Chinas auszumachen.

Wider die „Institutionenphobie“: Zum Verhältnis radikaldemokratischer Institutionen zur Unsicherheit

Nach Sintomers Plädoyer für eine „demokratische Revolution“ wendete sich das erste Panel des Tages unter dem Titel „Institutions of Uncertainty“ der Frage nach den richtigen Institutionen zu. Diese haben gerade in radikaldemokratischen Theorien Institutionen keinen leichten Stand, gelten sie doch tendenziell als starr und verschließend, wo es doch darum gehen müsse, die „versteinerten Verhältnisse zum Tanzen [zu] zwingen“ (Karl Marx) und die Zukunft offen zu halten. Zwar gab es zuletzt auch innerhalb der radikalen Demokratietheorien eine Hinwendung zu Institutionen, allerdings steht die radikaldemokratische Beschäftigung mit Institutionen noch relativ am Anfang. Und so betonten auch Sara Gebh (Wien) und Manon Westphal (Münster) in ihrer Einleitung, die Komplexität des Verhältnisses von Institutionen und Unsicherheit. Schließlich sei beispielsweise die Institution der Wahl in liberalen Demokratien der zentrale Mechanismus, um die Veränderbarkeit der Regierung und damit die Offenheit der Zukunft zu gewährleisten. Insofern seien Wahlen institutionelle Garanten für (begrenzte) Unsicherheit. Vor diesem Hintergrund widmete sich das Panel der Frage, welchen Kriterien zukunftsoffene Institutionen genügen müssen und wie Unsicherheit in konkrete Institutionen eingebaut werden kann.

Einen diskurstheoretischen Auftakt machte Tamara Caraus (Lissabon), indem sie Institutionen zunächst philosophisch und sehr breit als „Bedeutungsstrukturen“ definierte. Ihre Funktion bestehe darin, Bedeutungen festzulegen und die Zukunft vorzustrukturieren. Zugleich sei die poststrukturalistische Einsicht in die „Unmöglichkeit semantischer Schließung“ die beste Ressource, um Institutionen anzufechten. So hätten auch soziale Bewegungen, die sich außerhalb der klassischen politischen Institutionen bewegten, ihre eigenen (Gegen-)Institutionen. Dies sei nicht verwunderlich: Eine Politik ohne Institutionen sei undenkbar, weil Bedeutung von Menschen diskursiv hergestellt werde und dies zwangsläufig auf der Basis von oder im Gegensatz zu den bisher institutionalisierten Bedeutungen geschehe. Institutionen würden demnach verändert oder gänzlich abgeschafft, wenn eine Bedeutung angefochten und durch eine andere modifiziert und ersetzt werde. Insofern sei es zwar zutreffend, dass Institutionen Zukunftsmöglichkeiten reduzierten, allerdings geschehe die Eliminierung der Unsicherheit stets (potenziell) reversibel und auf Zeit.

Anschließend präsentierte Carmen Lea Dege (Harvard University) ihre kritische Theorie der Unwissenheit (ignorance), die sie als eine „demokratische Tugend“ etablieren möchte. Mit Max Weber identifizierte Dege zunächst die zwei traditionellen Modi, in denen eine Demokratie mit Unsicherheit umgehen könne: Wissenschaft und Politik. Beide Zugänge hätten ihren verdienten Platz in der demokratischen Theorie und Praxis, aber auch ihre Kehrseiten: Während die dunkle Seite der „wissenschaftlichen“ Antwort in einem epistemokratischen Autoritarismus liege, drohe die „politische“ Antwort in Relativismus oder Hyper-Politisierung umzuschlagen. Ein dritter Umgang bestehe in der „erlernten Unwissenheit“, die, richtig eingesetzt, einen emanzipatorischen Umgang mit Unsicherheit anleiten könne. Zwar gelte die Unwissenheit, verstanden als Bigotterie und Dummheit der Massen, seit Platon als größtes Hindernis für die Demokratie. Doch als ein komplementärer Teil menschlicher Existenz habe Unwissenheit durchaus ihre politische Berechtigung, so Dege. In ihrer demokratischen Ausprägung sei Unwissenheit ein legitimer „Standpunkt für Kritik“ jenseits von epistemischen Gewissheiten und politischem Relativismus, weil sie es erlaube, unter Bedingungen der Ungewissheit gut zu leben, anstatt zu versuchen, diese auszulöschen. Vor diesem Hintergrund müsse das platonische Ressentiment gegen die Demokratie vom Kopf auf die Füße gestellt werden: Gerade, weil die Demokratie die Herrschaft der Unwissenden begünstige, sei sie die beste Antwort auf das Problem der Unsicherheit.

Abschließend entwickelte Oliver Marchart (Wien) eine radikaldemokratische Ethik demokratischer Unsicherheit am Beispiel der Institution der Schule. Ausgehend von der Feststellung, dass die radikale Demokratie ihre „Institutionenphobie“ ablegen müsse, plädierte Marchart für eine radikaldemokratische Transformation liberal-demokratischer Institutionen. Wie aber könnten radikaldemokratische Institutionen überhaupt aussehen? Welchen Kriterien müssen sie genügen? Grundsätzlich müsse sich die radikaldemokratische Qualität einer Institution daran messen lassen, „inwieweit sie soziale Blasen zum Platzen bringe. Eine radikaldemokratische Institution wäre die Nadel im Ballon der Klassengesellschaft“. Als ein Vorbild könne die Schule in der Dritten Republik in Frankreich gelten, die den Laizismus als Grundlage der res publica energisch durchgesetzt habe. Nach diesem Vorbild bedürfe es heute einer radikaldemokratischen Schule, die den Kampf gegen alle anderen quasi-religiösen Fundamente mit ebenso großer Ernsthaftigkeit führe, so Marchart. Dazu zählte er neben den politischen Geltungsansprüchen religiöser Fanatiker*innen auch sozialdarwinistische und neoliberale Positionen, die anstelle der Volkssouveränität das Recht des Stärkeren und die Gesetze des Markts setzen wollten. Die Schule sei, wie Marchart selbst betonte, eine Zwangsinstitution, doch erlaube ihr genau dieser Umstand die Durchsetzung ihrer entscheidenden Funktion: die „Erfahrung von sozialer Promiskuität“ zu erzwingen. Damit werde die radikaldemokratische Schule zu einem Ort, der alle Klassen und Milieus einer Gesellschaft in Kontakt bringe und auf diese Weise einen „ersten Blick in [die] klassenlose Gesellschaft“ gewähre. Entscheidend sei, dass die radikaldemokratische Schule im Unterschied zum liberalen Ideal der freien Schulwahl Schüler*innen aus ganz unterschiedlichen Viertel gemeinsam in eine Schule schicke und die Ausstattung der Schule nicht mehr mit dem Einkommen der Eltern korreliere. Private Schulen seien ohnehin abzuschaffen, da sie das genaue Gegenteil von sozialer Promiskuität, nämlich soziale Segregation bewirkten. Marchart gelang es in seinem Vortrag, am Beispiel einer konkreten Institution allgemeine Gütekriterien radikaldemokratischer Institutionen zu entwickeln. Damit unterschied er sich von dem breiten Institutionenverständnis seiner beiden Vorredner*innen, allerdings blieb der Bezug von Institutionen zur Unsicherheit relativ vage. Bemerkenswert ist auch, mit welcher Inbrunst sich Marchart als radikaler Demokrat zu einem „revolutionären Republikanismus“ oder „links-demokratischen Etatismus“ bekannte. Damit hebt er sich dezidiert von anderen (insbesondere französischen) Theoretiker*innen der radikalen Demokratie ab, die ein deutlich staatskritischeres, anarchistischeres Politikverständnis aufweisen. Die Frage „Wie hältst du es mit dem Staat?“ scheint angesichts dieser fundamentalen Differenzen durchaus das Potential zu haben, ein radikaldemokratisches Schisma auszulösen und die Rede von der radikalen Demokratietheorie endgültig zu beerdigen.

Anarchistische, (links-)pragmatische und liberale Perspektiven auf Konflikte

Das zweite Panel des Tages, organisiert und moderiert von Tobias Albrecht und Felix Petersen (beide Münster), machte sich unter dem Titel „Unsicherheit als Ressource“ auf die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie eine konfliktive politische Praxis aussehen müsste, die mit Unsicherheit produktiv umgeht. Einigkeit bestand zwischen den drei Panelist*innen Jonathan Eibisch (Jena), Katharina Liesenberg (Darmstadt) und Vincent August (Berlin) in der Einschätzung, dass Konflikte ein emanzipatorisches Potenzial hätten und nicht einfach still gestellt werden dürften. Wenig überraschend endeten die Gemeinsamkeiten zwischen den vorgestellten Perspektiven des Anarchismus, (Links-)Pragmatismus und Liberalismus jedoch bereits im nächsten Schritt bei der Frage, welche Konflikte produktiv als Ressource genutzt werden könnten und was produktiv in diesem Zusammenhang überhaupt bedeutet. Während Eibisch den Konflikt zwischen Politik und Antipolitik als das entscheidende Spannungsverhältnis charakterisierte, untersuchte Liesenberg in ihrem Vortrag unter Rückgriff auf den Pragmatismus von John Dewey die gesellschaftlichen Voraussetzungen einer konfliktiven Demokratie. Abschließend unterbreitete August einen Vorschlag für ein Forschungsprogramm zu einer Theorie demokratischer Konflikte, einschließlich der Unterscheidung zwischen (für die liberale Demokratie) schädlichen und zuträglichen Konflikte.

Eibisch identifizierte die grundsätzliche Kritik an der Politik und am Politikmachen an sich als Ausgangspunkt jeder anarchistischen Theoriebildung. Dieses „normative Unbehagen“ an der Politik und dem Politischen könne ungewohnte und innovative Perspektiven für die Politischen Theorie eröffnen, so Eibisch. Schließlich sei der gouvernementale, negativ-normative, konfliktorientierte und (ultra-)realistische Konfliktbegriff des Anarchismus dem der radikalen Demokratietheorie nicht unähnlich, weise jedoch über diesen hinaus. Denn während die radikale Demokratietheorie den zentralen Widerspruch zwischen der Politik und dem Politischen verorte (und diesen zugunsten des Politischen auflöse), operiere der Anarchismus in der Lücke zwischen Politik und Antipolitik. Sein Bestreben liege in der Überwindung der Politik (Antipolitik), allerdings sei er in dieser Zielsetzung zweifellos eine politische Bewegung (Politik). Damit arbeite der Anarchismus auf die Abschaffung der Politik mit politischen Mitteln hin und eröffne einen neuen Blick auf Konflikthaftigkeit.

Liesenberg widmete sich in ihrem Beitrag den Voraussetzungen einer konfliktiven Demokratie nach John Dewey. Mit einer „konfliktiven Lesart“ Deweys lasse sich zeigen, dass Konflikte und Ungewissheit elementare Bestandteile menschlichen Zusammenlebens seien. Konflikte forderten den Status quo der herrschenden Gruppe heraus und stellten insofern eine Ressource dar, als sie wichtige Antreiber gesellschaftlicher Entwicklung seien. Doch Dewey biete nicht nur einen Konfliktbegriff, sondern auch eine Theorie von dessen gelingender Bearbeitung, so Liesenberg. Im Status quo gelinge es einer unterlegenen Gruppe zunächst nicht, ihre Anliegen öffentlich zu machen, weil diese Ansprüche von der dominanten Gruppe als individuelle Probleme abgetan würden. In der zweiten Phase gelinge es der unterlegenen Gruppe schließlich ihrem Anliegen durch kollektive Organisation Gehör zu verschaffen. In dieser Phase machten beide Gruppen Zugeständnisse, so dass in der dritten Phase die Etablierung eines neuen Status quo möglich sei. Eine zentrale politische Herausforderung bestehe für Dewey daher in der Entwicklung von Gewohnheiten und Institutionen, die die Menschen im Umgang mit Konflikt schulen würden. Die Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen von Konflikten sei daher kein Selbstzweck, sondern notwendig, weil andernfalls die hegemoniale Gruppe ihre Dominanz zu bewahren drohe. Insbesondere Bildung, Institutionen und politisches Engagement seien entscheidend, um kollektive Mechanismen der politischen Interessenbildung gegen eine zunehmende Alternativlosigkeit und Oligarchisierung des politischen Systems in Stellung zu bringen. Damit zeigt Liesenberg präzise und (für Dewey-Laien) durchaus überraschend auf, worin das progressive Potential von Deweys Pragmatismus liegt. Liest man Dewey weniger als Deliberations- und mehr als Konflikttheoretiker (und engagierten politischen Aktivisten) wird rasch deutlich, wie voraussetzungsvoll eine emanzipatorische Konfliktbearbeitung ist, dass an ihr aber kein Weg voranführt, wenn man die Demokratie demokratisieren anstrebt.

August hingegen diagnostizierte in der Politischen Theorie das Fehlen einer zeitgemäßen Theorie demokratischer Konflikte. Zwar sei gerade in agonalen Demokratietheorien viel über die Bedeutung und Intensivierung von Konflikten gesprochen worden, eine systematische Auseinandersetzung sei aber weitgehend ausgeblieben. Um diese Lücke zu schließen, präsentierte August seinen Vorschlag für ein Forschungsprogramm zu einer Theorie demokratischer Konflikte. Dieses besteht aus drei Teilen: Erstens benötige man eine Gesellschaftstheorie des Konflikts, die sich mit der Genese und Transformation typischer Konfliktlinien in modernen Gesellschaften befasse. Hierfür gebe in der Parteienforschung mit der Cleavage-Theorie bereits eine gut etablierte Theorie, die jedoch politiktheoretisch gewendet (sprich weniger ökonomistisch interpretiert) und um spätmoderne Konflikte rund um Debatten um Rassismus, Gender sowie Ökologie erweitert werden müsse. Diese neuen Konflikte seien besonders intensiv und gewissermaßen selbstreflexiv, weil sie dort entstünden, wo moderne Gesellschaften mit den Folgeschäden ihrer eigenen Funktionsweise konfrontiert würden. Auf dieser Basis könne zweitens eine Formtheorie des Konflikts formuliert werden, die darauf abziele, Konfliktdynamiken der Eskalation, Deeskalation und Rekonziliation angemessen zu beschreiben und zu erklären. Insbesondere an dieser Stelle sei der Politischen Theorie der Blick in andere (Sub-)Disziplinen wie die Soziologie und die Konfliktforschung zu empfehlen, in denen die Verläufe ganz unterschiedlicher Konflikte bereits relativ gut erforscht seien. Erst dann könne in einem dritten und letzten Schritt eine Demokratietheorie des Konflikts entwickelt werden. Statt Konflikte pauschal als produktiv oder unproduktiv zu klassifizieren, müsse es dort um die Frage gehen, unter welchen Bedingungen welche Konflikte demokratieförderlich oder demokratieschädlich sind. Hierfür sei insbesondere das Arrangement von Institutionen und gesellschaftlichen Praktiken in den Blick zu nehmen. Insgesamt lässt sich Augusts Forschungsprogramm als ein Aufruf an politische Theoretiker*innen verstehen, nicht nur die „ontologischen Natur des Konflikts“ (Laclau) in den Blick zu nehmen, sondern sich stärker als bisher an einer empirisch fundierten und interdisziplinär informierten Theorie konkreter gesellschaftlicher Konflikte (und ihrer gelingenden Bearbeitung) zu versuchen.



Literatur

Buchstein, Hubertus/Jörke, Dirk (2007): Die Umstrittenheit der Politischen Theorie. Stationen im Verhältnis von Politischer Theorie und Politikwissenschaft in der Bundesrepublik, in: Buchstein, Hubertus/Göhler, Gerhard (Hg.), Politische Theorie und Politikwissenschaft, Wiesbaden, S. 241-251.
 
CC-BY-NC-SA
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Weiterführende Links

Universität Bremen / 03.03.2023

Konzept der Konferenz „Politische Theorie in Zeiten der Ungewissheit“

 

Theorieblog / 05.10.2023

Kongresssplitter zum Theoriekongress: Vielfalt in Blogpostform

 

Mehr zum Themenfeld Das Fach

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