Asiem El Difraoui: Die Hydra des Dschihadismus. Entstehung, Ausbreitung und Abwehr einer globalen Gefahr. Aus dem Arabischen übersetzt von Günther Orth
11.03.2022
In „Die Hydra des Dschihadismus“ lege Asiem El Difraoui dar, wie sich die Ideologie des Dschihadismus international verbreitet habe und beleuchte die Entstehungsgeschichte sowie den Werdegang des islamistischen Terrors, so Rezensent Vincent Wolff. Den Ursprung des Dschihadismus sehe der Verfasser in Saudi-Arabien. Der Westen sei für den Erfolg des Dschihadismus mitverantwortlich. Um ihn zu bekämpfen, müsse Europas Rolle in der Welt gestärkt werden. Wolff kritisiert, dass El Difraoui den Islam als Opfer des Dschihadismus betrachte und den „Antisemitismus nicht als konstitutives Element des Dschihadismus“ identifiziere. (ste)
Eine Rezension von Vincent Wolff
„Der Dschihadismus ist eine [..] Sekte“ (324), so Asiem El Difraoui. Das schlimmste daran sei, „dass die todbringende Ideologie mittlerweile den gesamten Globus infiziert“ (13) habe, so der Autor. Er legt in seinem Buch detailliert dar, wie sich der Dschihadismus international verbreitet hat und beleuchtet die Entstehungsgeschichte sowie den Werdegang des islamistischen Terrors in verschiedenen Ländern und Regionen.
Der Autor reichert den Text dabei durch seine eigenen Besuche, Erfahrungen und Gespräche mit Schlüsselpersonen des Dschihadismus an. Dies ermöglicht einerseits eine Exklusivität der Aussagen, führt aber zu dem Eindruck, es gehe mehr um persönliche Erfahrungen als um die wissenschaftliche Abhandlung des Dschihadismus. In der Tat verschwimmt durch zahlreiche persönliche Anekdoten die Trennlinie der akademischen Analyse. Andererseits verfügt El Difraoui somit über Quellen aus erster Hand, die ihresgleichen suchen.
Den Ursprung des Dschihadismus sieht der Verfasser in Saudi-Arabien, von dort sei eine klare Linie zu den heutigen Entwicklungen des Dschihadismus zu ziehen. Gerade die „wahabitische Intoleranz“ sei „ein Nährboden, auf dem der Dschihadismus über Jahrhunderte gedeihen konnte“ (28). Dies macht der Verfasser auch an den 2.500 IS-Kämpfern aus Saudi-Arabien aus.
El Difraoui sieht auch beim Westen eine Schuld für den Erfolg des Dschihadismus, denn „wenn der Westen“ Afghanistan in den 1990ern „geholfen hätte“ (71), wäre aus dem Dschihadismus nicht eine weltweite Bedrohung geworden. Wiederholt werden die Probleme vor Ort externen Kräften zugeschoben. So sei es dem Irak unter Saddam Hussein schlecht gegangen wegen des „verhängten UN-Handelsembargos“ (82) und nicht aufgrund der menschenverachtenden Diktatur und bewusster politischer Entscheidungen. Dort wird zudem die irakische Baath-Partei als „ursprünglich panarabisch[e], sozialistisch[e] und laizistisch[e]“ (89) benannt. Dabei werde der instrumentelle Charakter der Partei Saddam Husseins verkannt, die nie auch nur einer dieser Beschreibungen ernsthaft nahekam.
Der Verfasser versucht sich daran, den individuellen Werdegang der einzelnen IS-Kämpfer zu erklären und schaut aus verschiedenen Blickwinkeln auf ausgewählte prominente Persönlichkeiten des Islamischen Staates als Beispiele dschihadistischer Entwicklungen. Laut El Difraoui seien fünf Bereiche relevant, um den persönlichen Einsatz für den Dschihadismus zu erklären: „sozioökonomische und soziokulturelle […], psychologische […],ideologische […], lokale und […] geopolitische“ (138). Nur die Kombination dieser Faktoren erkläre den Erfolg des Dschihadismus.
El Difraoui plädiert für eine stärkere Rolle Europas in der Welt, Europa brauche „eine Position der militärischen Stärke“ (292), um den Dschihadismus ernsthaft zu bekämpfen. Zudem müssen Übergangsjustiz und Rechtsstaatlichkeit in den betroffenen Ländern gestärkt werden. Das Ziel müsse die „Förderung funktionierender Zivilgesellschaften“ (310) sein. Parallel gehe es darum, „die verlogene Heilslehre des Dschihadismus […] kontinuierlich zu entlarven und zu widerlegen“ (325).
Ein besonderes Anliegen des Autors ist es, den Islam gegen den Dschihadismus zu verteidigen, der „immer weniger mit dem Islam zu tun“ (13) habe, konstatiert der Autor. Zudem trennt er den Salafismus vom Dschihadismus – eine gewagte These. „Die meisten Salafisten wollen [die radikale Interpretation des Islam] jedoch zumeist gewaltfrei durch Predigertum […] umsetzen“ (21), das unterscheide sie vom Dschihadismus. Ob es dieser Trennung zwischen Dschihadismus und Salafismus bedarf, ist allerdings umstritten.
Gerade mit der scharfen Trennung von Islam und Dschihadismus erweist El Difraoui dem Unterfangen einen Bärendienst. Zwar fragt der Verfasser, warum sich Jugendliche „gerade dem Dschihadismus zuwenden und nicht etwa dem Anarchismus“ (319), lässt diese Frage aber offen. So sieht er auch den Islam als Opfer des Dschihadismus: „Bewusst übersehen wird […], dass die überwiegende Mehrheit der Opfer dschihadistischer Barbarei selbst Muslime sind“ (231).
Zudem werden einige Player ohne Not aus der Verantwortung genommen. So sei in Dinslaken bei der Radikalisierung von Anis Amri wenig passiert, „der türkisch-muslimische Verband Ditib wollte die Radikalisierung ebenso wenig wahrhaben wie der Bürgermeister“ (198). Ist Ditib möglicherweise Teil des Problems? – Diese Frage stellt sich El Difraoui leider nicht.
Die Kernfrage bleibt unbeantwortet: Warum gibt es den Dschihadismus nur im Islam? Jedwede Kritik an diesen extremen Formen muss das Problem klar benennen, das im Islamismus verankert ist. Denn die Schwierigkeiten beginnen nicht erst dann, wenn sich Selbstmordattentäter in die Luft sprengen, sondern bereits bei den illiberalen, autoritären und regressiven Elementen des Islamismus. Die Verurteilung des Dschihadismus als Terrorismus ist wohlfeil, wenn man nicht die Ursachen dafür in den dahinterliegenden Strukturen benennt. Hier bleibt El Difraoui hinter den Erwartungen zurück.
Ein blinder Fleck bleibt bei dem Verfasser: El Difraoui schafft es nicht, den Antisemitismus als konstitutives Element des Dschihadismus zu identifizieren. Zwar zitiert er die Schriften, die Namen tragen wie „Erklärung der Internationalen Islamischen Front für den Heiligen Krieg gegen die Juden und Kreuzritter“, erklärt diese aber als „Manifest […], Amerikaner und ihre Verbündeten zu töten“ (75). Dabei wird offensichtlich der antisemitische Charakter des Dschihadismus verkannt.
Zudem werden Allgemeinplätze der Geopolitik verbreitet, die eher dem Antiamerikanismus als korrekter geschichtlicher Vorgänge folgen. Denn die Frage ist doch, ob sich der Dschihadismus auch ohne westliche ‚Intervention‘ entwickelt hätte. Diese Frage bleibt zu beantworten.
Somit zeigt das Werk bilde Flecken auf, die den Gesamtwert schmälern. El Difraoui erzählt wenig Neues, sondern versucht mit persönlichen Anekdoten zu überzeugen. Somit trägt das Buch nur bedingt zum Erkenntnisgewinn bei. Kenner und Expertinnen in dem Feld lernen kaum Neues zum Dschihadismus.