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Gitta Sereny

Das deutsche Trauma. Eine heilende Wunde. Aus dem Englischen übertragen von Rudolf Hermstein

München: C. Bertelsmann 2002; 505 S.; geb., 23,90 €; ISBN 3-570-00558-5
Die hier nochmals veröffentlichten Artikel Serenys stammen aus den Jahren 1967 bis 2000. Für die Neuausgabe ihrer wichtigsten Reportagen und Recherchen zum Nationalsozialismus und dem Massenmord an den Juden hat Sereny erklärende und kommentierende Zwischentexte geschrieben. Tatsächlich sind diese Kommentierungen für das Verständnis der Artikel sehr wichtig und ohne den persönlichen Hintergrund der Autorin auch nicht in ihrer ganzen Breite zu erfassen. Die in Wien aufgewachsene Ungarin, Jahrgang 1923, Schülerin an einer englischen Privatschule, die als junges Mädchen zufällig einen Reichsparteitag in Nürnberg miterlebt, nahm den Nationalsozialismus zunächst aus einer faszinierten Distanz wahr. Erst ab 1938 kam für die Schauspielschülerin bei Max Reinhardt die persönliche Betroffenheit hinzu, als ihre Mutter und ihr jüdischer Stiefvater in die Schweiz ausreisen mussten, Sereny nicht mehr die Schauspielschule besuchen konnte und sie schließlich selbst in die Schweiz ausreiste. Nach einer mehr als abenteuerlichen Zwischenstation im besetzten Frankreich, wo sie als Kindergärtnerin arbeitete, kam sie in die USA. Nach dem Krieg kehrte sie als UN-Mitarbeiterin und Kinderfürsorgerin in der UNRRA-Uniform nach Deutschland zurück und widmete sich der schwierigen Aufgabe, von den deutschen Besatzern in Osteuropa verschleppte Kinder wieder zurückzuschleusen. Die Erlebnisse im Krieg und die unmittelbaren Nachkriegseindrücke haben Sereny nachhaltig geprägt, sodass sie sich ihr ganzes journalistisches Leben mit der Frage befasste: Wie konnte es zum Massenmord an den Juden kommen? Wer waren denn eigentlich diese Menschen verachtenden Nazis? Und wie wurde dieses "Trauma" in der deutschen Nachkriegsgesellschaft verarbeitet? Besonders eindrucksvoll sind ihre Gespräche mit dem Lagerkommandanten von Treblinka, Franz Stangl, den sie kurz nach seiner Verurteilung zu lebenslanger Haft in Düsseldorf interviewte. Es ist Serenys unkonventionelle Herangehensweise, ihr unprätentiöser Schreibstil, der nicht nur verhindert, dass sie mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger auftritt, sondern auch bewirkt, dass sie in ihrem Streben nach Antworten auf ihre Fragen glaubwürdig bleibt. So sind etwa ihre biographischen Porträts von Albert Speer (über ihn schrieb sie eine viel beachtete Biographie), Leni Riefenstahl oder Kurt Waldheim keine Anklagen, sondern immer der Versuch, sich dem Problem des nationalsozialistischen Massenmordes, der Frage, wie die Menschen damit umgingen, aus unterschiedlichen Perspektiven zu nähern. Was hat Speer gewusst? Wie stand Riefenstahl tatsächlich zu Hitler und dem Nationalsozialismus? Weshalb kann sich der österreichische Bundespräsident nur noch selektiv erinnern, obwohl er nachweislich nicht an den Verbrechen beteiligt war, die ihm unterstellt wurden? Neben diesen biographischen Abrissen finden sich Texte zu fanatischen Militaria-Sammlern, dem Fälscher der Hitlertagebücher, Leugnern des Genozids, der "Hitler-Welle" in der deutschen Gesellschaft, der Jagd nach NS-Tätern, aber auch zu dem Problem der israelischen Justiz und ihrem schwierigen Umgang mit Zeitzeugen und deren mitunter nebulösem Erinnerungsvermögen. Trotz oder gerade wegen ihrer tiefen Einblicke in die Hintergründe und Motive der Täter wie Stangl ist Sereny optimistisch, dass das "deutsche Trauma" überwindbar ist; daher auch der zuversichtliche Untertitel des Sammelbandes, der sich allerdings in der englischen Veröffentlichung von 2000 nicht findet.
Axel Gablik (AG)
Dr., Historiker.
Rubrizierung: 2.312 | 2.311 | 2.313 | 2.35 Empfohlene Zitierweise: Axel Gablik, Rezension zu: Gitta Sereny: Das deutsche Trauma. München: 2002, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/16519-das-deutsche-trauma_18970, veröffentlicht am 25.06.2007. Buch-Nr.: 18970 Rezension drucken