
Menschenrechte und Volkssouveränität in Europa. Gerichte als Vormund der Demokratie?
Im Mai 2009 wurde bei einer Tagung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main darüber diskutiert, ob die Aufgabe der Ausgestaltung und Ausformulierung von Grund- und Menschenrechten vorrangig den Volksvertretungen oder aber den Gerichten zugewiesen werden sollte. Zu den Referentinnen und Referenten zählten unter anderem Samantha Besson, Hauke Brunkhorst und Christoph Möllers. Neben Staats- und Rechtstheoretikern waren jedoch auch Praktiker wie Péter Paczolay, Präsident des ungarischen Verfassungsgerichts, eingeladen. Die Vorträge und einige Kommentare liegen nun als Sammelband vor; ihnen ist eine Einführung von Gret Haller vorangestellt, sie räsoniert die Beiträge zusammenfassend über die demokratische Legitimation der Grund- und Menschenrechte. Abgesehen von den grundlegenden Einschätzungen der politischen Theorie und Rechtsphilosophie (etwa Brunkhorsts, der abermals auf den „Grundwiderspruch von demokratischen Rechten und undemokratischen Organisationsformen“ hinweist, die „die Bildung neuer Formen der Klassenherrschaft“ ermöglichen würden [169]), ist für Politologinnen und Politologen insbesondere der finnische Beitrag von Kaarlo Tuori lesenswert. Finnland wahrt zwar die Gesetzgebungshoheit des Parlaments, indem die abstrakte ex ante-Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit dem Parlamentsausschuss für Verfassungsrecht übertragen ist. Zusätzlich führte die neue Verfassung des Jahres 2000 aber eine konkrete ex post-Prüfung ein. Mit dieser Hybridform weist Finnland nach wie vor eine „bemerkenswerte parlamentarische Prägung“ (287) auf, schwimmt jedoch wie viele andere Länder im Strom des New Constitutionalism, der die Judizialisierung der Politik fördert. Gemäß Péter Paczolay, der diese Entwicklung auch in Ungarn sieht, heißt das: „Je mehr Befugnisse die Richter haben, desto weniger Raum bleibt für den demos“ (297). Welche Implikationen sich daraus für Demokratie und Rechtsstaat ergeben, veranschaulicht der Sammelband sowohl für die nationalstaatliche als auch für die übernationale Ebene.