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Heinz-Gerhard Haupt

Gewalt und Politik im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts

Göttingen: Wallstein Verlag 2012 (Das Politische als Kommunikation 2); 118 S.; brosch., 9,90 €; ISBN 978-3-8353-1038-4
Wenn das Politische als ein Raum der Freiheit und des Handelns begriffen wird, dann ist Gewalt eine von vielen möglichen Entäußerungsformen menschlicher Praxis. Eingebettet in ein Spannungsfeld von staatlich institutionalisierter Macht und Legitimität, erweist sich Gewalt dann als ein Grenzphänomen, das illegitim und legitim zugleich sein, dabei institutionalisierte Macht zerstören und gleichsam schaffen kann. In diesem auch gegenwartsdiagnostisch überaus wichtigen Spannungsfeld bewegt sich Haupt in seiner sehr knappen Studie, in der er speziell danach schaut, wie politische Akteure „Gewaltakte politisch rechtfertigten und in politische Strategien einbrachten“ (12). Die Suche nach den „Kommunikationsräumen für Gewaltrechtfertigung“ (68) erweist sich dann aber als relativ ernüchternd, was insbesondere zweierlei Gründe hat (neben dem Allgemeinplatz, dass sich ein so großes Vorhaben kaum zufriedenstellend auf knapp 100 Seiten wird abhandeln lassen). Zum einen ist hierfür der nicht hinreichend differenzierte Gewaltbegriff zu nennen: Haupt zitiert zwar etwa die Studie „Progressive Gewalt“ von Sven Packe, mit der dieser Anfang der 1970er-Jahre an der Universität Bochum promoviert worden war, indes greift er nicht wirklich auf sie zurück. Packe liefert dort mit Blick auf die Französische Revolution eine differenzierte Begrifflichkeit zum Thema Gewalt; im Kontext des politischen Protests etwa den Begriff der „Herstellungsgewalt“. Nicht nur, dass Haupt den Begriff nicht verwendet, er diskutiert ihn nicht einmal, obschon er sich thematisch doch in nahezu identischem Fahrwasser bewegt. Zum anderen gründet die Ernüchterung auf der Fokussierung des Bandes auf das 19. und 20. Jahrhundert – ein Zeitraum, der mit Blick auf die politisch motivierte Gewalt in der Menschheitsgeschichte sicherlich einmalig ist. Dass etwa Paul Borusse mit dem Konzept der „Propaganda durch die Tat“ anarchistische Attentäter angeleitet hat, ist nämlich mittlerweile ebenso hinlänglich bekannt, wie der Mechanismus der Gewaltlegitimation durch Bedrohungsszenarios, etwa im Ausnahmezustand. Was jedoch fehlt – weil der Band den Zeitpunkt dieser Debatte zu Unrecht nicht mehr abdeckt – ist die Analyse der gegenwärtigen Diskussionen im Rahmen der radikalen Demokratietheorie (Haupt zitiert an einer Stelle Andreas Kalyvas) über adäquate Formen von (gewaltsamem) Widerstand gegen bestehende, jedoch als illegitim begriffene Formen moderner Demokratie. Diese direkte Konfrontation von Demokratie und Gewalt – man denke etwa an das Manifest des Unsichtbaren Komitees – zu diskutieren, wäre eine große, leider jedoch vergebene Chance gewesen.
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.2 | 5.42 | 2.21 | 2.25 | 2.61 | 2.37 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Heinz-Gerhard Haupt: Gewalt und Politik im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts Göttingen: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35137-gewalt-und-politik-im-europa-des-19-und-20-jahrhunderts_42298, veröffentlicht am 05.07.2012. Buch-Nr.: 42298 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken