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Inga Markovits

Gerechtigkeit in Lüritz. Eine ostdeutsche Rechtsgeschichte

München: C. H. Beck 2006; 304 S.; brosch., 19,90 €; ISBN 978-3-406-55054-6
„Lüritz gibt es nicht“ (9), schreibt Markovits, Juraprofessorin an der University of Texas, aber es gebe eine Stadt mit etwa 55.000 Einwohnern an der Ostseeküste, die sich hinter diesem Namen verberge. Das Pseudonym ist nötig, weil nur so aus den öffentlich nicht zugänglichen Quellen, auf denen das Buch basiert, zitiert werden darf: Es handelt sich um die Gerichtsakten des Kreisgerichts, die vierzig Jahre lang gebündelt in einem Keller gestapelt wurden. „Aus meinen Akten und den Interviews will ich rekonstruieren, wie der Aufstieg und Fall eines totalitären Rechtssystems von den daran Beteiligten erlebt wurde.“ (11) Dieses Vorhaben ist Markovits eindrucksvoll gelungen: Sie nimmt ihren Leser mit auf eine Reise in ein anderes Land und in eine andere Zeit, macht ihn mit einstigen Richtern, Rechtsanwälten, Parteigenossen und Angeklagten bekannt. Entstanden ist so eine kleine Alltagsgeschichte der Rechtssprechung, mit der sich nicht nur die Diktatur, sondern oft auch die Angepasstheit vieler Bürger belegen lässt – und zuweilen ihre geradezu erstaunliche Eigensinnigkeit. Markovits arbeitet außerdem Entwicklungen heraus, die sich für die DDR verallgemeinern lassen. Sie beginnt chronologisch mit der Einführung einer sozialistisch gefärbten, oft aber im alten BGB verwurzelten Rechtssprechung und zeigt in thematisch orientierten Kapiteln die Veränderungen – hinsichtlich der Eigentumsrechte und der Vertragsfreiheit, des Familien- und Arbeitsrechts sowie des Einflusses der SED. Die sozialistische Rechtssprechung war durch eine „Erziehungsmanie“ (14) geprägt, in vielen Verfahren bemühten sich die Richter um Vermittlung und bezogen zur Konfliktlösung beispielsweise die Betriebsgruppe als gesellschaftliches Umfeld mit ein. Der Glaube an den Sozialismus nehme allerdings im Laufe der Jahrzehnte ab, schreibt Markovits, während der Glaube der Richter an das Recht zunehme. Auch das Ende der DDR hat sich seit 1985 in den Akten angekündigt: Unter Juristen wurde tatsächlich diskutiert, ob die Bürger gegen die Ablehnung einer (Aus)Reisegenehmigung sollten klagen dürfen.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.314 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Inga Markovits: Gerechtigkeit in Lüritz. München: 2006, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/26839-gerechtigkeit-in-lueritz_31320, veröffentlicht am 25.06.2007. Buch-Nr.: 31320 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken