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Anil Al-Rebholz

Das Ringen um die Zivilgesellschaft in der Türkei. Intellektuelle Diskurse, oppositionelle Gruppen und Soziale Bewegungen seit 1980

Bielefeld: transcript Verlag 2012 (Kultur und soziale Praxis); 402 S.; kart., 33,80 €; ISBN 978-3-8376-1770-2
Diss. Frankfurt a. M.; Begutachtung: A. Demirovic, U. Apitzsch. – Anil Al‑Rebholz geht aus einer diskurs‑ (Foucault) und hegemonietheoretischen (Gramsci) Perspektive der Frage nach, wie sich der gesellschaftliche Wandel in der Türkei, der in Folge des Militärputsches von 1980 eingetreten ist, in „neuen Diskursen, Paradigmen, Denkweisen und Ideologien“ (19) in der heutigen Gesellschaft niedergeschlagen hat. Ausgangspunkt der Analyse ist eine detaillierte theoretische Reflexion des Zivilgesellschaftsbegriffs, der in der Tradition von Gramsci als immer an die staatlichen Machtverhältnisse rückgekoppelt begriffen wird. Gegenstand der Untersuchung, die von einem Spannungsfeld zwischen immer noch autoritärem Staat und einer gegenautoritären Wirkung zivilgesellschaftlicher Akteure ausgeht, sind Interviews mit Gesprächspartner*innen aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich – seien es Frauenrechtsorganisationen oder oppositionelle politische Gruppen. Anhand der Auswertung der Interviews gelingt es Al‑Rebholz, einen Zivilgesellschaftsdiskurs zu rekonstruieren. Dabei stellt sie heraus, dass dieser, gerade weil er in strikter Opposition zu einem als autoritär apostrophierten Staat steht, selbst alles andere als demokratisch einzuschätzen ist: „Die Glorifizierung einer aktiven, demokratischen Zivilgesellschaft [...] im Gegensatz zu einem autoritären, schwerfälligen türkischen Staat hat aber noch eine sehr wichtige Funktion in der Herstellung der neoliberalen Hegemonie. Die Existenz einer effizienten, starken Zivilgesellschaft ist die Conditio sine qua non für den Erfolg der neoliberalen Restrukturierungsprogramme.“ (377) Damit erfährt der Begriff der Zivilgesellschaft eine spannende funktionale beziehungsweise instrumentelle Umdeutung. Anstatt ihn als Ausdruck einer starken Demokratie und damit als integralen Bestandteil des Politischen zu begreifen, wird er als Schwächung staatlicher Institutionen gegenüber einer neoliberalen Ökonomisierung interpretiert. Das wiederum impliziert aber auch, dass die türkische Zivilgesellschaft entweder nicht echt oder aber von dritter Seite instrumentalisiert ist – und damit eben alles andere als ein Ausdruck authentischer demokratischer Praxis. Gerade in dieser – von Al‑Rebholz auf beeindruckende Weise vorgeführten und theoretisch begründeten – Wendung liegt so viel Brisanz, dass eine weiterführende Diskussion auf Basis ihres Buches unbedingt angezeigt ist.
Matthias Lemke (LEM)
Dr. phil., Politikwissenschaftler (Soziologe, Historiker), wiss. Mitarbeiter, Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.632.222.275.42 Empfohlene Zitierweise: Matthias Lemke, Rezension zu: Anil Al-Rebholz: Das Ringen um die Zivilgesellschaft in der Türkei. Bielefeld: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/34694-das-ringen-um-die-zivilgesellschaft-in-der-tuerkei_41699, veröffentlicht am 08.05.2013. Buch-Nr.: 41699 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken