
Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention
Die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann gehört zu den profiliertesten Vertreterinnen einer kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung (siehe Buch‑Nr. 41093, 30849). Ihr neuer Beitrag versteht sich als eine kritische Diskussion aktueller Tendenzen auf diesem Gebiet im Spannungsfeld von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Drei Bedeutungen des schillernden Begriffs Erinnerungskultur bietet sie an: Er könne als Chiffre für eine „Pluralisierung und Intensivierung der Zugänge zur Vergangenheit“ verstanden werden, beziehe sich darüber hinaus auf „die Aneignung der Vergangenheit durch eine Gruppe“ und lasse sich schließlich auf eine „ethische Erinnerungskultur“ (32) beziehen. Letztere – in ihrer „Übernahme der Opferperspektive durch die Täter oder Sieger“ ein „absolutes [historisches] Novum“ (208) – wird als positive Errungenschaft in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt. Im Zentrum dieser Entwicklung steht die Universalisierung des Holocausts (siehe Buch‑Nr. 17660) als ein weltweiter erinnerungskultureller Bezugspunkt, als gleichsam „normativ[e] Vergangenheit“ (191). Gerade für die ostmitteleuropäischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergibt sich hier die Herausforderung einer „eklatante[n] Asymmetrie“ (155), da deren Erfahrung stalinistischer Gewalt nicht in gleichem Maße öffentlich anerkannt wird. In ähnlicher Weise stellt sich für Deutschland die unterschiedlich zu beantwortende Frage der Erinnerung an NS‑Herrschaft und SED‑Regime. Assmann schließt sich hier dem Bochumer Historiker Bernd Faulenbach an: „Die Erinnerung an den Stalinismus darf den Holocaust nicht relativieren. Die Erinnerung an den Holocaust darf den Stalinismus nicht trivialisieren.“ (114) Die Entstehung eines „einheitliche[n] europäische[n] Geschichtsbild[es]“ ist bei entsprechenden Aushandlungsprozessen nicht zu erwarten und auch nicht nötig – wohl aber müssten die jeweiligen Erinnerungen akzeptiert werden und „kompatibel“ (199) sein. Erinnerungsdiskurse bieten so die „Chance [einer] kritische[n] Selbstreflexion“ (209) und stehen für die Erkenntnis, dass die Zeit eben doch nicht alle Wunden heilt.