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Galina Ivanova / Stefan Plaggenborg

Entstalinisierung als Wohlfahrt. Sozialpolitik in der Sowjetunion 1953-1970. Aus dem Russischen von Lukas Mücke und Shirin Schnier

Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2015; 280 S.; 34,90 €; ISBN 978-3-593-50284-7
Die zentrale These lautet, dass die Entstalinisierung in der Sowjetunion, die unter Chruschtschow einsetzte, zwei Kernelemente hatte: das Ende des willkürlichen Terrors und den Versuch, das Elend großer Teile der Bevölkerung zu lindern oder zu beheben. Bis zum Tod Stalins war das System allein auf den industriellen Aufbau des Landes konzentriert gewesen, die Menschen hatten dafür Opfer zu bringen – „43 Prozent der sowjetischen Beschäftigten lebten 1954 unter dem staatlich festgelegten Existenzminimum, das weit davon entfernt war, als üppig zu gelten“ (11), wie Stefan Plaggenborg, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Ruhr‑Universität Bochum, im Vorwort erläutert. Es gab kaum Konsumgüter zu kaufen, die Menschen verdienten wenig, weder bei Arbeitslosigkeit – die es offiziell nicht gab – noch im Alter waren sie abgesichert. Die langsame Änderung dieser Zustände – als Etablierung eines sowjetischen Wohlfahrtsstaatsmodell interpretiert – schildert Galina Ivanova in dieser Studie, die im Rahmen eines Forschungsprojekts in Bochum erarbeitet und dort nach Ablauf der Förderung von anderen Mitarbeitern „in eine lesbare Form“ (19) gebracht wurde. Insgesamt fehlt es der Darstellung an Tiefenschärfe und nicht alle Thesen sind überzeugend. Ein Beispiel ist die Interpretation des Wohnraums, der nach einer Umfrage von 1971 den Menschen zur Verfügung stand. Demnach bewohnte die größte Gruppe, 44 Prozent, pro Person jeweils fünf bis neun Quadratmeter. Der Feststellung der Autorin hierzu, es handele sich um „eine große soziale Errungenschaft der Sowjetunion, die man nicht ignorieren kann“ (259), ist nicht nachvollziehbar, bleiben doch dabei die Ursachen der Wohnungsnot und ihre langsame und unvollständige Behebung ausgeblendet, ebenso fehlt ein Vergleich. Auch die These, dass der „staatliche Paternalismus jenes verbindende Element [war], das die sowjetische Gesellschaft festigte und vereinte“ (261), ist weder theoretisch eingeordnet noch empirisch unterfüttert – die Beschwerdebriefe der Bürger werden zwar erwähnt, aber nicht systematisch ausgewertet. Die Schilderung des alltäglichen Lebens in den Briefen und durch die Autorin – viele Familien hatten nur ein Zimmer, kaum jemand besaß ein Auto oder Telefon, es fehlten Kindergartenplätze, das Straßenbild war von Bettlern geprägt, andere Informationsquellen als die staatlichen Medien waren nicht zugänglich – lässt die Behauptung, es habe einen „ungeschriebenen ‚Gesellschaftsvertrag‘“ (267) gegeben, als eine Umdeutung der Rousseau’schen Idee erscheinen, die angesichts fehlender bürgerlicher Freiheiten nicht plausibel ist. Dem an sich interessanten Buch wird durch solcherlei Deutungen viel von seiner Aussagekraft genommen.
{NW}
Rubrizierung: 2.622.2622.25 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Galina Ivanova / Stefan Plaggenborg: Entstalinisierung als Wohlfahrt. Frankfurt a. M./New York: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39091-entstalinisierung-als-wohlfahrt_47071, veröffentlicht am 19.11.2015. Buch-Nr.: 47071 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken