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Matthias Jestaedt (Hrsg.)

Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre. Stationen eines wechselvollen Verhältnisses

Tübingen: Mohr Siebeck 2013 (Recht – Wissenschaft – Theorie 8); IX, 289 S.; brosch., 59,- €; ISBN 978-3-16-152396-0
Die Schriften von Hans Kelsen wurden in Deutschland über Jahre hinweg kaum rezipiert: Den Politikwissenschaften war er zu juristisch, obwohl seine Publikation „Vom Wesen und Wert der Demokratie“, deren zweite Auflage bereits 1929 erschien, zu den modernsten Demokratietheorien überhaupt zählt; weit vor und radikaler als Ernst Fraenkel begriff Kelsen Demokratie pluralistisch, ohne Rückgriff auf die „Souveränität“ des homogenen Kollektivs Volk. Aus Sicht des Staatsrechts wiederum konzipierte er eine positivistische Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft – eine Staatslehre ohne Staat, die gerade von der konservativen, an Hegels Staatstheologie geschulten deutschen Lehre bis aufs Messer bekämpft wurde. Nicht zuletzt aufgrund personeller Kontinuitäten (Birgit von Bülow: Die Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit, siehe Buch‑Nr. 1896) und Machtkartellen bei Lehrstuhlbesetzungen blieben daher die antidemokratischen, ausdrücklichen „Anti‑Kelsen‑Verfassungslehren“ des Deutschnationalen Rudolf Smend („Integrationslehre“) und des Faschisten Carl Schmitt in der Form liberaler Anpassung seitens ihrer jeweiligen Schüler auch in der Bundesrepublik dominant (Frieder Günther: Denken vom Staat her, siehe Buch‑Nr. 24687) – zumal der liberale Wiener Sozialdemokrat nach seiner Flucht vor der NS‑Diktatur ohnehin im amerikanischen Exil geblieben war. Diesen Kontext vorausgeschickt, nimmt der Band im Rahmen der aktuell allgemein zu beobachtenden Kelsen‑Renaissance speziell das – zeitweise fast von Hass geprägte – Verhältnis der Staatsrechtslehre, die Kelsen in Deutschland lange zur wissenschaftlichen Persona non grata gemacht hat, in den kritischen, disziplingeschichtlichen Blick. Grundlage ist eine vom Herausgeber initiierte Tagung, die im Oktober 2011 in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München stattfand und an der eine ganze Reihe von Mitgliedern der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer teilnahm. Der Band enthält die Referate nebst Diskussionen, darüber hinaus je einen Beitrag von Ernst‑Wolfgang Böckenförde und Oliver Lepsius. Thematisiert wird das schwierige Verhältnis in vier zeitlich geordneten Hauptkapiteln: vom „Weimar Schulenstreit“ (51) über die Nachkriegsjahrzehnte und einer ersten, vereinzelten Neuentdeckung in den 1980er‑Jahren bis hin zum anhaltenden, regelrechten Rezeptionsboom der vergangenen Jahre.
Robert Chr. van Ooyen (RVO)
Dr., ORR, Hochschullehrer für Staats- und Gesellschaftswissenschaften, Fachhochschule des Bundes Lübeck; Lehrbeauftragter am OSI der FU Berlin sowie am Masterstudiengang "Politik und Verfassung" der TU Dresden.
Rubrizierung: 5.46 | 5.41 Empfohlene Zitierweise: Robert Chr. van Ooyen, Rezension zu: Matthias Jestaedt (Hrsg.): Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre. Tübingen: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/36460-hans-kelsen-und-die-deutsche-staatsrechtslehre_44605, veröffentlicht am 28.11.2013. Buch-Nr.: 44605 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken