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Martin Senti

Internationale Regime und nationale Politik. Die Effektivität der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) im Industrieländervergleich

Bern/Stuttgart/Wien: Verlag Paul Haupt 2002; XX, 374 S.; 42,- €; ISBN 3-258-06387-7
Politikwiss. Habilitationsschrift Bern. - Seit über achtzig Jahren versucht die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) durch die Ausarbeitung sozialpolitischer Mustergesetzgebungen Einfluss auf die nationale Sozialpolitik in ihren Mitgliedsländern auszuüben. Obwohl die ILO in Fragen des internationalen Sozial- und Arbeitsrechts die wichtigste Autorität ist, bemängeln Kritiker eine fehlende Effektivität in der Durchsetzung ihrer Standards. Diese Kritik wird unverdrossen reproduziert, weil es kaum systematische Untersuchungen gibt, welche die Wirksamkeit des ILO-Prinzips der freiwilligen internationalen Selbstbindung nachweisen. Welche Konsequenzen das internationale Regime der ILO für die nationalen Politikfelder hat, beleuchtet Senti in seiner empirischen Studie mit großer wissenschaftlicher Souveränität. Um die Effektivität der ILO-Standards nachzuweisen, verbindet er die wissenschaftlichen Ansätze der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung und der Theorie der Internationalen Beziehungen. Seinen Industrieländervergleich (22 OECD-Staaten) in der Periode von 1960 bis 1995 ergänzt der Berner Politikwissenschaftler mit einer historiografischen Studie der Schweizer Sozialpolitik in den Jahren 1919 bis 1999. Die forschungsleitende Frage nach der Wirksamkeit von ILO-Konventionen verdichtet Senti zu drei Thesen: Ausgehend vom (neo-)realistischen Theorieansatz der Internationalen Beziehungen formuliert er die erste These vom marginalen Einfluss der ILO auf die nationalstaatlichen Sozialpolitiken. Aus dieser Perspektive verhindert der Standortwettbewerb der Staaten eine internationale Harmonisierung sozialpolitischer Programme. Mit der zweiten These bezieht der Wissenschaftler die Gegenposition. Sie reflektiert die (neo-)liberale-institutionalistische Denkrichtung der Internationalen Politik und vermutet substanzielle Auswirkungen der Regime auf die nationalen Staatstätigkeiten. Um keine Wettbewerbsnachteile zu erleiden, werden sozialpolitisch hochregulierte Länder versuchen, ihre eigene Politik über die ILO-Standardsetzung zu diffundieren. Mit der dritten These der "Innenpolitik mit anderen Mittel" (7) bezieht Senti die Verteilungswirkungen der internationalen Kooperation auf der nationalstaatlichen Ebene ein. Die innerstaatlichen Kräfteverhältnisse, Institutionen und sozioökonomischen Gegebenheiten sind eine zusätzliche Erklärungsdimension der sozialpolitischen Einflussnahme der ILO. Sentis Ergebnisse zeigen, dass das Abstimmungsverhalten hinsichtlich ILO-Konventionen kaum länderspezifisch ist. Der nationalstaatliche Konflikt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern verlagert sich auf die internationale Ebene. Dazwischen stehen Regierungsdelegationen, die ausgleichend auf die Auseinandersetzung wirken wollen. Bei der innerstaatlichen Ratifikationspraxis kommt den regionalen Wohlfahrtsstaat-Typen eine entscheidende Bedeutung zu: "Ausgehend von den sozialdemokratisch dominierten Ländern des peripheren Nordens Europas verbreitet sich die Ratifikation über die kontinentaleuropäischen Industrieländer hin zu den 'rudimentären' südeuropäischen Mittelmeerstaaten. Letztere ratifizieren die ILO-Standards als sozialpolitische Aufholländer verspätet, allerdings zahlenmäßig überdurchschnittlich häufig. Die hier untersuchten nicht-europäischen Industrieländer USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Japan dagegen zeigen sich zurückhaltend in der Übernahme der internationalen Verpflichtungen." (204 f.) Hinsichtlich der Policy-Effekte des Sozialstandard-Regimes auf die nationale Sozialpolitik weist Senti eine signifikante Expansion der Sozialleistungsquote nach. Sentis Befunde stützen die These des substanziellen Einflusses internationaler Regime, insbesondere der ILO-Konventionen, auf den nationalstaatlichen Handlungsspielraum. So zeigen sich die Schweizer Regierungs- und Arbeitgebervertreter auf den Internationalen Arbeitskonferenzen der ILO wesentlich offener gegenüber den sozialpolitischen Instrumenten als in der innenpolitischen Umsetzung. Die zurückhaltende Ratifikationspraxis entspricht eben doch den Vorstellungen der bürgerlich-liberalen Mehrheit im Schweizer Parlament. Dass insgesamt zu wenig Konventionen von den Mitgliedstaaten ratifiziert werden, bleibt das Hauptproblem der ILO. Hinzu kommt, dass die Regimeeffektivität von innerstaatlichen Vorbedingungen wie politische Machtverteilung (Konfliktstruktur) und Ausgestaltung der politischen Institutionen (Verfahrensregeln) abhängig ist. Letztlich bleibt es den Mitgliedsländern überlassen, ob sie ihre Selbstverpflichtung einhalten. Für die Theorie der Internationalen Beziehungen zeigt das Beispiel der ILO, dass der nationalstaatliche Standortwettbewerb Regimebildung nicht per se wirkungslos macht. Trotz aller Widerstände und Kritik ist die ILO die maßgebende Institution bei der Verbreitung menschenwürdiger Arbeits- und somit Lebensbedingungen. Aus dem Inhalt: 2. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO): Internationale Normsetzung und -überwachung. II. Das ILO-Regime im Industrieländervergleich: 3. Die Adoption von ILO-Konventionen im Industrieländervergleich; 4. Die Ratifikation von ILO-Übereinkommen im Industrieländervergleich; 5. Die Effektivität des internationalen Sozialstandard-Regimes: Ratifikation von ILO-Übereinkommen und nationale Ausgaben für soziale Sicherheit. III. Die Schweiz und die ILO: 6. Das Adoptions- und Ratifikationsverhalten der Schweiz; 7. Effekte des ILO-Sozialstandard-Regimes auf die Sozialpolitik in der Schweiz.
Wilhelm Johann Siemers (SIE)
Dipl.-Politologe, Journalist, Redakteur der Sprachlernzeitschrift vitamin de, Florenz.
Rubrizierung: 4.43 | 4.3 | 2.5 | 2.262 Empfohlene Zitierweise: Wilhelm Johann Siemers, Rezension zu: Martin Senti: Internationale Regime und nationale Politik. Bern/Stuttgart/Wien: 2002, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/16687-internationale-regime-und-nationale-politik_19169, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 19169 Rezension drucken