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Marie-Carin von Gumppenberg

Staats- und Nationsbildung in Kazachstan

Opladen: Leske + Budrich 2002 (Forschung Politikwissenschaft 150); 227 S.; kart., 19,80 €; ISBN 3-8100-3359-6
Die Vorboten dafür, dass Kasachstan sich zu einem ethnischen Hexenkessel hätte entwickeln können, zeigten sich bereits im Dezember 1986. Wegen der Ernennung eines neuen kasachischen Ersten Parteisekretärs durch das Moskauer Zentrum kam es damals in Almaty zu blutigen Auseinandersetzungen. Szenarien einer Balkanisierung mit gewaltsamen Kämpfen zwischen den rund 100 Ethnien des Landes bewahrheiteten sich nicht, obwohl viele politische Analytiker ganz Zentralasien als potenzielle Krisenregion einstuften. Dennoch sind ethnische Spannungen weiterhin vorhanden, die sich zudem mit sozioökonomischen Problemlagen vermengen. Um den Konflikten von Anfang an die Brisanz zu nehmen, bevorzugten die politischen Eliten in Kasachstan eine forcierte Staats- und Nationsbildung. Der Präsident Nursultan Nasarbaew erklärte das Vorhaben, durch Stilisierung gemeinsamer Mythen und Symbole eine kasachische Nation zu bilden, zur persönlichen Chefsache. In ihrer wissenschaftlich soliden Arbeit konzentriert sich von Gumppenberg im Wesentlichen auf Probleme, die in der Gründungsphase eines neuen Staates prinzipiell auftreten: Kann der offiziell verordnete Nationalismus innerhalb der Bevölkerung ein Bewusstsein für die Legitimität der Unabhängigkeit schaffen? Können die neuen Institutionen eine Partizipation der Bevölkerung an der politischen Entscheidungsfindung gewährleisten? Hinsichtlich dieser Fragen ist es erforderlich, auch die Hypotheken der sowjetischen Nationalitäten- und Entwicklungspolitik zu analysieren. Mehr als zehn Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung Kasachstans bilanziert von Gumppenberg: "Das 1991 favorisierte Konzept europäischer Staatlichkeit, von dem die politischen Eliten in Kazachstan gehofft hatten, es würde im Lande zu inter-ethnischer Harmonie und sozialem Frieden beitragen sowie für politische Stabilität und Legitimität sorgen, hatte in Kazachstan nur begrenzten Erfolg." (199) Der offiziell verschriebene Nationalismus war in seiner Wirkung insofern widersprüchlich, als er vielerorts das ethnische Selbstverständnis schärfte und Widerstand gegen die gleichmachende staatsbürgerliche Doktrin auslöste. Als Gegenreaktion wurden ethnische und sub-ethnische Bezüge dominanter. "Gerade bei den Kazachen spielten auf lokaler und regionaler Ebene wieder bzw. weiterhin Clan- und Abstammungsloyalitäten eine Rolle." (200) Ferner wurde das Versprechen der gesellschaftlichen Mitwirkung am politischen Entscheidungsprozess vom kasachischen Staat, insbesondere vom patrimonialen System des Präsidenten Nasarbaew, nicht eingelöst. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind kaum entwickelt. Darauf reagierten die Kasachen mit politischer Apathie und Zynismus. Der kasachische Staat bleibt ein labiles Gebilde. So zieht von Gumppenberg ein nüchternes Fazit: "Kazachstan war mehr denn je mit den vielfältigen innenpolitischen Herausforderungen konfrontiert, die seine Nationalstaatlichkeit in Frage stellten." (201) Die Zukunft wird zeigen, ob solche politischen Systeme, die auf die exponierte Stellung des Präsidenten setzen, es schaffen, ein multiethnisches Land auf Dauer zu stabilisieren. Inhaltsübersicht: I. Sowjetische Nationalitätenpolitik; II. Ethno-Nationalismen zu Sowjetzeiten; III. Staats- und Nationsbildung; IV. Staatliche Performanz und politische Partizipation.
Wilhelm Johann Siemers (SIE)
Dipl.-Politologe, Journalist, Redakteur der Sprachlernzeitschrift vitamin de, Florenz.
Rubrizierung: 2.62 | 2.2 Empfohlene Zitierweise: Wilhelm Johann Siemers, Rezension zu: Marie-Carin von Gumppenberg: Staats- und Nationsbildung in Kazachstan Opladen: 2002, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/16589-staats--und-nationsbildung-in-kazachstan_19053, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 19053 Rezension drucken