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Gregor Schöllgen

Willy Brandt. Die Biographie

Berlin: Propyläen Verlag 2001; 320 S.; 3. Aufl.; geb., 25,- €; ISBN 3-549-07142-6
Die Quellenlage für den jugendlichen Brandt ist zweifellos problematisch, denn hier existieren nicht vielmehr als seine Memoiren. Insofern mag es eine Folge dieser schmalen Quellenbasis sein, dass sich Schöllgen kaum zu den Fragen auslässt, was einen noch nicht volljährigen, aber parteipolitisch engagierten Brandt umtreibt, welche Grundüberzeugungen er vertritt, welche Argumente er benutzt, als er aus der SPD aus- und in die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) eintritt. Oder anders gewendet: War schon 1930/31 zu erkennen, dass der Lübecker Gymnasiast einmal eine herausragende politische Rolle spielen würde? Jedenfalls begann die Karriere des Berufspolitikers Herbert Frahm alias Willy Brandt ungewöhnlich, und er, der Jungsozialist, hat bei den neuen Machthabern ab 1933 soviel Aufmerksamkeit erregt, dass er fliehen muss. Er ist bis 1945 einerseits Journalist, ein ungemein produktiver Schriftsteller, er ist andererseits weit gereister Agent der im Untergrund agierenden SAP, Informationsvermittler in scheinbar eigener Sache, tatsächlich aber wohl mehr für andere, zum Beispiel den NKWD, den Vorläufer des KGB. Brandts Kritiker haben ihm daraus den Vorwurf des Vaterlandsverräters konstruiert, erhärtet durch den Umstand, dass Brandt in norwegischer Uniform in Nürnberg über den Hauptkriegsverbrecherprozess schreibt. Aber diese Vorwürfe lassen sich schnell als Ablenkungsmanöver von den eigenen dunklen biographischen Punkten entlarven. Schöllgen zeichnet das Bild eines Vollblutpolitikers, der spätestens seit Mitte der Fünfzigerjahre beständig die Grenze seiner psychischen und physischen Belastbarkeit streift. Aber Brandt ist, so Schöllgen, kein unbedingter Machtpolitiker, denn mag auch die Karriere steil nach oben führen: Brandt hat während seiner aktiven Zeit die eigene Partei niemals unter vollkommener Kontrolle, er kämpft auch nicht sonderlich darum. Brandts graue Eminenz ist Herbert Wehner, der auch das zweite Kabinett Brandts konzipiert. Die Kanzlerschaft ist allerdings der Karrierehöhepunkt für den außenpolitischen Realisten Brandt, der zusammen mit Egon Bahr eine neue Ostpolitik betreibt, nicht zuletzt deswegen, weil er nicht mehr an eine Wiedervereinigung glaubt, die er eine "spezifische [...] Lebenslüge der zweiten deutschen Republik" (266) nennt. Schließlich stürzt Brandt "aus einem Anlass, der nichtiger kaum hätte sein können" (211), über die Guillaume-Affäre. Politische Freunde hat der Kanzler nicht, er ist "zeitlebens ein einsamer Mann" (211), "ist verletzbar, empfindlich und konfliktscheu" (213). Den Kanzlersturz hat Brandt niemals überwunden. Er macht innerparteilich Stimmung gegen den NATO-Doppelbeschluss, den Helmut Schmidt entscheidend auf die Bahn gebracht hat. Überspitzt formuliert ist es Brandt, der Schmidt stürzt, denn der Parteivorsitzende unternimmt nichts, um die Partei auf Kanzlerkurs zu halten. Brandt empfindet eine gewisse Genugtuung, den wenig geliebten Amtsnachfolger stürzen zu sehen. Gleichzeitig bricht allerdings auch eine lang aufgestaute Enttäuschung gegenüber den USA aus ihm heraus, die ihn - so glaubt Brandt - als Berliner Oberbürgermeister 1961 so schmählich im Stich gelassen haben. Der Bundeskanzler a. D. ist ein Reisender. Schöllgen schreibt diese Reiselust einerseits der steten Neugier Brandts zu, andererseits ist es aber auch Konfliktscheu: drohen Auseinandersetzungen, Positionskämpfe in Deutschland, befindet sich Brandt im Ausland. Allerdings ist auch Eitelkeit im Spiel: Er ist der Elder Statesman, der besonders nach 1982 frei und ohne sonderlichen Parteizwang seine Meinung darlegen kann, er, der renommierte Friedensnobelpreisträger und allseits geachtete Präsident der Sozialistischen Internationale: "Wer den roten Teppich ausrollt, darf auf Willy Brandt hoffen", so Schöllgen (257). Man mag darüber streiten, ob Schöllgen "die" Brandt-Biographie geschrieben hat, wie der Untertitel nahe legt; jedenfalls ist es eine wichtige, quellenfundierte (siehe die kommentierte Bibliographie im Anhang) und noch dazu lesbare Darstellung über einen der wichtigsten deutschen Nachkriegspolitiker. Inhalt: Der Aufbruch. Einsam gegen den Strom. 1913-1933; Die Reise. Als Verfolgter draußen. 1933-1948; Der Aufstieg. Aussichten "am Rande der Welt." 1948-1966; Die Falle. Im Zentrum der Macht. 1966-1974; Die Flucht. Als Staatsmann unterwegs. 1974-1987; Die Ankunft. Heimkehr eines Patrioten. 1987-1992.
Axel Gablik (AG)
Dr., Historiker.
Rubrizierung: 2.3 | 2.331 Empfohlene Zitierweise: Axel Gablik, Rezension zu: Gregor Schöllgen: Willy Brandt. Berlin: 2001, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/14580-willy-brandt_18207, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 18207 Rezension drucken