/ 05.06.2013
Jürgen Gerhards / Friedhelm Neidhardt / Dieter Rucht
Zwischen Palaver und Diskurs. Strukturen öffentlicher Meinungsbildung am Beispiel der deutschen Diskussion zur Abtreibung
Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998; 223 S.; kart., 48,- DM; ISBN 3-531-13203-2Keine Demokratie ohne funktionierende Öffentlichkeit: darin stimmen moderne politische Theorien - ob liberaler (z. B. Ackermann) oder deliberativer Ausrichtung (z. B. Habermas) - überein. Strittig dagegen bleibt, ob die Funktionsfähigkeit von Öffentlichkeit eher von einem pluralistisch gedachten Modell getroffen wird, das der Vielfalt von Meinungen und Präferenzen bloß Ausdruck verleiht, oder ob Öffentlichkeit als meinungsbildender, letztlich an Rationalitätsstandards diskursiver Verständigung ausgerichteter Prozeß zu verstehen sei. Am Beispiel der Abtreibungsdiskussion verfolgt die Studie zwei Ziele: Sie will einerseits "Sollvorstellungen beider Modelle" (38) gleichsam einem Realitätstest unterwerfen, andererseits möchte sie gegenüber den bisher auf Rezipientenforschung konzentrierten empirischen Analysen die "Makrodimensionen des Phänomens Öffentlichkeit" zur Geltung bringen (11). Zur näheren Bestimmung der Leistungsfähigkeit des "Systems Öffentlichkeit" sind drei Fragen leitend: (a) Akteure und Themen, (b) Kommunikationsformen und (c) Effekte öffentlicher Kommunikationen (24 ff.). Methodisch steht eine Inhaltsanalyse von Verlautbarungen beteiligter Akteure und einschlägiger Berichterstattung von SZ und FAZ der Jahre 1970 bis 1994 im Mittelpunkt; zur Erhellung der Produktionsbedingungen von Öffentlichkeitsarbeit sind zusätzlich kollektive Akteure - teils standardisiert, teils qualitativ - befragt worden. Ein informativer Anhang dokumentiert das gewählte inhaltsanalytische Verfahren, namentlich den Ansatz, über eine "Frame-Analyse" quantitative und qualitative Methoden in der Auswertung großer Datenmengen zu verknüpfen (190 ff.). Auch wenn die empirischen Befunde eher Erwartungen des liberalen Modells (vor allem hinsichtlich der Artikulation von Akteuren und Themen) zu bestätigen scheinen (178 ff.), gibt die methodisch und argumentativ beeindruckende Studie Anhängern des deliberativen Modells Anreiz genug, das Verhältnis von normativen und empirischen Annahmen noch einmal zu überprüfen.
Inhaltsübersicht: I. Einleitung: 1. Zur Geschichte des Abtreibungskonflikts in Deutschland; 2. Analytischer Bezugsrahmen; 3. Methoden der Untersuchung. II. Der Zugang zur medialen Öffentlichkeit: 4. Bevölkerungsmeinungen zur Abtreibungsfrage; 5. Die "Öffentlichkeitsarbeit" der Akteure; 6. Die Selektivität der Medien; 6.1 Das Medienengagement im Abtreibungsstreit; 7. Die Sprecher der Medienöffentlichkeit. III. Kommunikation in der Medienöffentlichkeit: 8. Inhalte der Kommunikation; 9. Kommunikationsstile und Argumentationsniveaus; 10. Lerneffekte öffentlicher Kommunikation; 11. Metakommunikation in Pressekommentaren. IV. Schlußbetrachtung: 12. Theoretische Erwartungen und empirische Befunde. Anhang: Erhebungsmethoden: 1. Methodisches Vorgehen und Besonderheiten der Inhaltsanalyse; 2. Methodisches Vorgehen und Besonderheiten der Akteursbefragung.
Thomas Mirbach (Mir)
Dr., wiss. Mitarbeiter, Lawaetz-Stiftung Hamburg, Lehrbeauftragter, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.333 | 2.343
Empfohlene Zitierweise: Thomas Mirbach, Rezension zu: Jürgen Gerhards / Friedhelm Neidhardt / Dieter Rucht: Zwischen Palaver und Diskurs. Opladen/Wiesbaden: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/6816-zwischen-palaver-und-diskurs_9159, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 9159
Rezension drucken
Dr., wiss. Mitarbeiter, Lawaetz-Stiftung Hamburg, Lehrbeauftragter, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
CC-BY-NC-SA