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Hamed Abdel-Samad: Aus Liebe zu Deutschland. Ein Warnruf

05.02.2021
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Autorenprofil
Dr. rer. pol. Wahied Wahdat-Hagh
München, dtv 2020

Hamed Abdel-Samad fragt, wie es in der Bundesrepublik zur vergifteten Streitkultur und zum Schweigen der Menschen in der Mitte der Gesellschaft kam: Ist die Meinungsfreiheit in Gefahr oder glaubten die Menschen hierzulande schlicht nicht mehr an Freiheit und Demokratie? Während Deutschland weiter Migranten und Geflüchtete anziehe, goutierten viele eine Willkommenskultur, täten eine Leitkultur jedoch vielfach als dumpf, nationalistisch und rassistisch ab. Anhand solcher Fragen diskutiert der Autor eigene Thesen zu einem deutschen Identitätstrauma.

Eine Rezension von Wahied Wahdat-Hagh

Der Autor Hamed Abdel-Samad zählt sich zu den kritischen Muslimen, die sich zur „Universalität der Menschenrechte und den Werten der Aufklärung“ (131) verpflichtet fühlen. Er wolle die Freiheit bewahren, die er in seiner ersten Heimat Ägypten nicht hatte und argumentiert, dass „wir alle“ (137) die Freiheit verteidigen müssen, wenn diese in Gefahr ist.

Er schätze die Bundesrepublik, trage sich gleichzeitig mit „Sorgen über das, was gerade in Deutschland“ (12) geschehe und fragt nach den Gründen, warum und wie es zu einer, wie er es nennt, vergifteten Streitkultur und zum Schweigen der Menschen in der Mitte der Gesellschaft kam. Ist die Meinungsfreiheit hierzulande in Gefahr oder glauben die Menschen einfach nicht mehr an Freiheit und Demokratie? Warum zieht Deutschland Migrant*innen und Flüchtlinge an? Eine Willkommenskultur empfänden viele als gut, die Überlegung einer Leitkultur sei für viele jedoch allenfalls „dumpf, nationalistisch und rassistisch“ (13).

Es sind wichtige Fragen, die hiermit aufgeworfen werden und deren Antworten sind gleichwohl nicht immer einfach. Abdel-Samad kritisiert, dass es in Deutschland an Elementen einer gefestigten Identität fehle: „Ein Gründungsmythos für die Nation, eine gelebte Erinnerungskultur.“ (14) Zudem sei nicht deutlich, welche Spielregeln das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft organisieren sollen. Dabei holt er wiederholt historisch weit aus und erinnert an die Niederlage der Römer in der Varusschlacht, an die Gründung des Heiligen Römischen Reiches und an das Deutsche Reich zu Zeiten Bismarcks, die heute eben nicht mehr als identitätsstiftend betrachtet würden.

Als Politologe wirft er die Frage auf, ob das Grundgesetz identitätsstiftend sei, da es doch das „Ergebnis eines Traumas“ (19) sei. Abdel-Samad hält es gar für fatal, „eine moderne deutsche Identität auf den Trümmern des Dritten Reiches zu errichten“. Der Autor diagnostiziert somit Identitätsprobleme in Deutschland und konstatiert: „Ein Land, das sich seiner Identität und Werte nicht sicher ist, kann weder dem eigenen Volk noch kann es den Einwanderern eine attraktive Identität anbieten oder eine selbstbewusste Rolle in der Staatengemeinschaft übernehmen.“ (21)

Dabei psychologisiert er im Zuge seiner Gedankenführung, dass jeder Mensch eine Orientierung brauche, aber man dürfe nicht alles, was man in seiner Umgebung findet, für das Maß aller Dinge halten. „Die Abschottung der eigenen Identität“ (29) schade mehr als die Auseinandersetzung mit der Identität der Anderen. Denn aus der Sicht Abdel-Samads sei eine schwache Identität nicht in der Lage, mit der Welt zu verhandeln.

Dabei leitet der Autor aus Ereignissen der Menschheitsgeschichte, etwa dem Untergang der Maya, politische Schlussfolgerungen ab: Eine politische Idee, die die eigene Gemeinschaft gegenüber anderen Gemeinschaften erhöhe, bereite den Boden für Terror und Gewalt und schließlich für den eigenen Untergang.

Für die Bundesrepublik stellt er eine „deutsche Identitätsneurose“ (34) fest. Manche Historiker behaupteten, dass der Dreißigjährige Krieg die Urkatastrophe der Deutschen gewesen sei. Abdel-Samad setzt früher an und geht davon aus, dass das „deutsche Urproblem“ seinen Ausgangspunkt mit der „Gründung des Heiligen Römischen Reiches“ (35) genommen habe. Denn mit diesem habe die Genese der deutschen Identität begonnen. Und die Europäische Union sei für Deutschland eine „Art modernes Heiliges Römisches Reich“ (37). Das Scheitern dieses Projektes könnte Deutschland somit erneut in eine tiefe Identitätskrise stürzen. Der Reichsmythos sei von den Römern über die Franken auf die Deutschen übertragen worden. Das Heilige Römische Reich, das „Bollwerk der Christenheit“ (39) und dessen von Gott eingesetzte Herrscher deutscher Nation bestimmten die mittelalterlichen Reichsideologien. In dieser Zeit seien die ersten Ansätze der Selbstüberhöhung der Deutschen entstanden, welche im 20. Jahrhundert in die Katastrophe geführt hätten.

Abdel-Samad geht davon aus, dass der Dreißigjährige Krieg in der kollektiven Erinnerung der Deutschen das „Urtrauma“ (39) darstelle, da sich die Bürger infolgedessen verstärkt der weltlichen Obrigkeit untergeordnet hätten. Seine Thesen über den „Reichsmythos als die Urquelle des deutschen Unheils“ (41) habe der Autor dem ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck vorgestellt, doch der habe skeptisch reagiert.

Es sind provokante Thesen, die der Autor formuliert. Es wäre besser gewesen, wenn er diese weiter vertieft hätte. Abdel-Samad stellt fest, dass Deutschland „Wald und Maschine, Christentum, Romantik und Aufklärung“ (55) in einem sei. Die Bundesrepublik habe schließlich den „Reichsmythos politisch und intellektuell überwunden“ (59). In den Gefühlen und Köpfen der Menschen lebe aber die Vergangenheit weiter.

Dabei kritisiert Abdel-Samad gerne die gegenwärtige Integrationspolitik in Deutschland: „Wir machen Integrationsangebote, schrecken aber vor den Geboten, Verboten und Sanktionen zurück.“ (62) Die Regeln für das Zusammenleben würden nicht definiert. Dabei erklärt er nicht, wer denn jenseits des Bürgerlichen Gesetzbuches und des Grundgesetzes die Regeln für das Zusammenleben definieren sollte, zumal der Staat seine Neutralität bewahren muss. Es gelte jedoch, dass Minderheiten keinen Freibrief erhalten dürfen, um Grund- und Menschenrechte zu missachten.

Der Autor gelangt diesbezüglich zu der Schlussfolgerung, dass etwas falsch laufe, „wenn die Staatskassen und die sozialen Sicherheitssysteme auf Dauer mehr belastet als entlastet“ (182) seien.

Diese Kritik beinhaltet, dass, aufgrund des „Gebots der Toleranz und der schnell gezückten historischen Schuldkeule“ (63), antidemokratische, antiwestliche und antisemitische Organisationen geduldet würden. Von der Berufung auf die historische Schuld profitierten aber nur Extremisten. Er sieht hierin wiederholt Identitätskonflikte und nicht überwundene Identitätsmuster. Heute würden Islamisten und Rechtsradikale, die einem mittelalterlichen christlichen Reich anhingen, gemeinsam „gegen die Aufklärung und die westlichen Werte“ (64) kämpfen.

Hinzu kämen die vielen Gesichter des Untertanengeistes in Deutschland, die der Politologe seines Erachtens ermittelt hat. Er bezeichnet sie als „Ideologie-Untertanen“ (90). Zu ihnen gehörten religiöse, akademische, Moral-, Schuld-, Opfer- und Wohlstands-Untertanen. Diese seien Kirchenfunktionäre oder Akademiker. Hinzu kämen die das Fremde verklärenden ‚Multikulti-Träumer‘, andere den Schuldkomplex der Deutschen schamlos ausnutzende Funktionäre und Intellektuelle mit Migrationshintergrund sowie schließlich apolitische Menschen, das heißt die aus Angst vor wirtschaftlichen Nachteilen schweigende Mehrheit. Der Autor geht davon aus, dass der Glaube an das Grundgesetz „vielen in Deutschland zu fehlen“ (93) scheint. Daher schlägt er vor, das Hambacher Fest als „Demokratiefest für alle Deutschen“ (105) wiederzubeleben und empfiehlt den Zeitraum vom 27. Mai bis zum 1. Juni. Sein Vorschlag – bei dem er Europa einbezieht – sei keineswegs mit den Ideen der AfD zu verwechseln, die einen Marsch der Patrioten fordere.

Er geht davon aus, dass die Hauptursache für die gesellschaftliche Spaltung eine „Diskursunfähigkeit“ (115) sei. Meinungen würden aus Angst zurückgehalten, da diese emotional aufgeladen und ohne einen rationalen Unterbau seien. Der Diskursraum werde so durch diejenigen verengt, die ihre „emotionale, intellektuelle und soziale Komfortzone nicht verlassen wollen“ (128).

Abdel Samad wirft dem deutschen Staat vor, „kein Konzept“ (184) für Integrationsprobleme zu haben. Er fordert, „Verfassungspatriotismus, Freiheit und Vielfalt“ (185) in politische Konzepte und lebendige Realitäten umzusetzen. Kritisch sieht er, dass türkisch-islamische Organisationen, die von der türkischen Regierung gelenkt und finanziert werden, als „Partner des Staates in Sachen Integration und Islamunterricht“ (186) fungierten. Vereinigungen, wie die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V. (DITIB), erhielten umfangreiche Finanzmittel vom Staat, um sich um Flüchtlinge zu kümmern. Islamisten bauten so in Deutschland mit dem Verweis auf Toleranz und Teilhabe ihre Netzwerke aus.

Der Autor bezieht sich daher auf das Konzept der Leitkultur von Bassam Tibi, der „Werte der Aufklärung als Maßstab nahm“ (196), wie er schreibt. Gemeint seien Werte der Freiheit, der Toleranz, der Menschenrechte und des Säkularismus. Vor dem Hintergrund der Unverhandelbarkeit der aufklärerischen Werte, spricht sich Abdel-Samad in der Praxis für das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit aus und dafür, dass „dieses Recht nicht durch Beschneidung verletzt wird“ (209).

Tatsächlich betrachtet er selbst die Probleme somit nicht aus der Position des Migranten und konstatiert vielmehr aus der Position des Aufklärers, dass eine „begründete Kritik am Islam“ (198) keineswegs mit Rassismus gleichgesetzt werden dürfe. Er plädiert für eine „Wertedebatte“ (199), die für die Produktivität und Effizienz der Gesellschaft unerlässlich sei.

Ob die Demokratie und die freie Welt wirklich in Gefahr sind, sei dahingestellt. Es sind indes verschiedene und wichtige Probleme, die der Autor anspricht. Diese müssen öffentlich und angstfrei diskutiert werden.

 

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Martin Sabrow / 01.08.2017

Heinrich-Böll-Stiftung

 

Thilo Schöne / 01.03.2016

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Stiftung Wissenschaft und Politik

 

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