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Emmanuel Saez / Gabriel Zucman: Der Triumph der Ungerechtigkeit. Steuern und Ungleichheit im 21. Jahrhundert

28.07.2020
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Autorenprofil
Vincent Wolff, M.P.P.
Aus dem Englischen von Frank Lachmann
Berlin, Suhrkamp Verlag 2020

Die beiden Wirtschaftswissenschaftler Emmanuel Saez und Gabriel Zucman nehmen die international wachsende Frustration über den Anstieg der Ungleichheit zum Auslöser, um sich eingehend mit Steuersystemen und Verteilungsmechanismen zu befassen. Das folgende Argument ist dabei zentral: Gesellschaften entscheiden selbst, wie sie die Steuergesetzgebung gestalten, unabhängig von der internationalen Gemengelage. Daher sei es auch möglich, nach Jahren der Deregulierung wieder zu einem deutlich progressiveren System zurückzukehren, denn: „Gesellschaften können wählen, welches Maß an Steuerprogressivität sie möchten“ (247).

Saez und Zucman beziehen sich in ihren Ausführungen auf die Vereinigen Staaten. Die USA seien besonders stark von Armut und sozialer Ungleichheit betroffen, weshalb die Autoren an die Leser*innen appellieren: „Es wäre ein schwerer Fehler, mit dem Handeln zu warten, bis die Lage so dramatisch ist wie in den Vereinigten Staaten“ (7). Es sei daher wichtiger denn je, frühzeitig gegenzusteuern.

Doch gerade die USA dienen den Autoren als Beispiel dafür, wie sehr sich ein Steuersystem in beide Richtungen entwickeln kann, was in der Vergangenheit auch erfolgt ist. So habe sich das Land von einem Niedrigsteuer- in ein Hochsteuerland und wieder zurück verwandelt. Ein neuerlicher Schwenk sei folglich möglich. Die beiden Ökonomen legen eine Reihe von konkreten Vorschlägen vor, wie die Steuergesetzgebung aus ihrer Sicht gerechter gestaltet werden könnte. Dazu zählt beispielsweise, multinationale Konzerne bei der Steuerveranlagung höher einzustufen, die Gesundheitsversorgung anders zu finanzieren und die progressive Einkommensteuer zu erneuern. Diese Vorschläge sind transparent, präzise und durch „die moderne Forschung gestützt“ (21).

Saez und Zucman fordern die Leser*innen dabei mathematisch heraus und exerzieren Steuerfragen anhand komplexer Beispiele durch. So erklären sie auf umfassende Weise die Funktionen des Nettonationaleinkommens und der Wirtschaftsleistung pro Kopf und bauen auf dieser Analyse eine grobe Klassenstruktur der Vereinigten Staaten auf. Dabei erklären sie die Einzelschicksale der „Working Poor“ anhand einfacher Beispiele. Denn in dieser Bevölkerungsschicht sei in den USA das wirkliche wirtschaftliche Problem beheimatet: „Das Bemerkenswerte an der US-Wirtschaft ist nicht, dass die Mittelschicht verschwindet, sondern, wie wenig die Arbeiterschicht verdient“ (28).

Es ist dem Verfasserduo wichtig, dass diese Trends revidiert werden können. In detailliertem Maße zeigen sie die historische Entwicklung der USA seit der Boston Tea Party von 1773 auf – einschließlich der Verfassungsänderungen und Kehrtwenden. Dabei nutzen Saez und Zucman ein szenisches Schreiben, um die Bedeutung von historischen Ereignissen wie der wirtschaftspolitischen Reformen unter Präsident Ronald Reagan (Reagonomics) zu unterstreichen. So seien massive Steuersenkungen immer absehbar gewesen, da sich die Vorentwicklungen jedes Mal ähnelten: „Als erstes nimmt die Steuerumgehung massiv zu. Dann folgt die Klage der Regierungen, die Reichen zu besteuern sei unmöglich geworden. Anschließend werden deren Steuersätze gekürzt.“ (76) Dies sei in den USA ab den 1980er-Jahren geschehen und habe unter anderem zum langsamen Ende der Körperschaftssteuer geführt und dazu, dass 40 Prozent der Gewinne multinationaler Konzerne in Steueroasen verschoben worden seien.

Diese Entwicklung verlange danach, tätig zu werden und die Abwärtsspirale zu stoppen. Das Ziel müsse es sein, vom Unterbietungs- zum Überbietungswettbewerb zu gelangen. Daher sollten Steuerfragen im Mittelpunkt der Handelspolitik stehen: „Bei einem ausreichend hohen Steuerniveau würde die Logik des internationalen Wettbewerbs auf den Kopf gestellt.“ (167) Saez und Zucman rechnen vor, wie hoch dann beispielsweise der Grenzsteuersatz liegen müsste: „Der optimal durchschnittliche Steuersatz für Steuerzahler in der Spitzengruppe beträgt 60 Prozent“ (176, Hervorhebung im Original). Damit sollte die Einrichtung eines Bundeamtes für den Schutz der Allgemeinheit einhergehen, das analog zu anderen regulatorischen Behörden die Steuerumgehung bekämpft.

Dies ist Teil eines umfassenden Maßnahmenkatalogs, den Saez und Zucman ausbreiten. Dafür haben sie eigens eine digitale Simulation eingerichtet, die komplexe steuerliche Fragen für die Volkswirtschaft kalkuliert, die Effekte von verschiedenen Maßnahmen berechnet und aufzeigt. Mit dieser Plattform (https://www.taxjusticenow.org) wollen die beiden Autoren ein Werkzeug bereitstellen, das es auch fachlich weniger Versierten ermöglicht, komplizierte Steuerfragen zu simulieren und eigenverantwortlich angehen zu können. Die Verfasser stellen klar: Dieses Werk soll als Anleitung für interessierte Leser*innen dienen, die sich um die wachsende Ungleichheit sorgen und sich nach konkreten Antworten zur Lösung dieses Problem sehnen.

Die Zielrichtung des Buchs ist von der ersten Seite an klar und die Leser*innen erhalten, was Zucman und Saez versprechen: ein normativ orientiertes Buch, das zudem nicht mit Zahlen, Daten und Fakten geizt und durchgehend für eine stärkere Besteuerung der Besserverdienenden argumentiert. Viele Annahmen sind implizit und schwächen daher die Aussagekraft des Buches – so beispielsweise die Anfangsannahme, immer mehr Menschen würden sich um die Ungleichheit sorgen. Trotzdem ist diese Publikation wichtig, denn die Autoren stemmen sich geschickt gegen den fatalistischen Zeitgeist der Alternativlosigkeit des Steuerwettbewerbs nach unten. Sie setzen sich mit allen Gegenargumenten präzise und umfassend auseinander und scheuen auch die komplizierten Fragen nicht.

Mit diesem Buch präsentieren Saez und Zucman ein starkes Argument für eine progressivere und umfassendere Besteuerung gerade großer Vermögen. Auch wenn dieses nicht neu ist, so gelingt es den beiden Ökonomen doch, ein gut verständliches Werk für die breite Menge zu verfassen, das sich zahlloser Steuerfragen widmet und klarstellt: „Der Unterbietungswettbewerb, der heute wütet, ist nur eine Option von vielen“ (8). Die Autoren zeigen auf, wie dieser Trend umgekehrt werden kann. Insofern handelt es sich um ein wichtiges Werk der Gegenwart.

 

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