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Colin Crouch: Der Kampf um die Globalisierung

27.07.2020
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Autorenprofil
Vincent Wolff, M.P.P.
Übersetzt von Martin Born
Wien, Passagen Verlag 2020

Der Kampf um die Globalisierung. Reform und Gestaltung

„Es ist schwer, eine genaue Bilanz der Gewinne und Verluste der Globalisierung aufzustellen“ (23), schreibt der Politikwissenschaftler Colin Crouch. Dennoch versucht er sich daran und positioniert sich auf der Seite der Globalisierungsbefürworter. Crouch sieht die aktuellen politischen Entwicklungen als „epische[n] Kampf zwischen Globalisierung und dem wiederauflebenden Nationalismus“ (7), der die politischen Konflikte und Identitäten weltweit verändere. Dabei macht der Autor keinen Hehl daraus, dass er die Globalisierung für vorteilhaft hält und sie gerade aus politisch progressiver Sicht stärker verteidigt werden müsse. Mit diesem etwa achtzigseitigen Essay formuliert Crouch ein Argument für die Globalisierung für die politische Linke.

Aktuell sei eine besondere Entwicklung zu beobachten, die sich als führende politische Konfliktlinie der Gegenwart manifestiere: das Bejahen der wirtschaftlichen Vorteile bei gleichzeitigen Ängsten vor kulturellem Verlust. Daraus entstehe ein Unbehagen, das die traditionelle Arbeiterschicht in Europa, aber auch in den USA teile. Dieses zeige zwar unterschiedliche Ausprägungen, im Kern handele es sich aber um die gleiche Entwicklung: Russen, Briten und Australier trauerten vergangenen Imperien nach, Deutsche seien über den Verlust der ‚Heimat‘ betrübt und französische Stahlarbeiter bedauerten den Verlust ihrer Arbeitsplätze.

Der Widerstand gegen die Globalisierung komme zwar „von allen erkennbaren Teilen des politischen Spektrums“, so Crouch, aber „seine Führung [habe] von jeher fest in den Händen der Rechten“ (10) gelegen. Um jetzt voranzukommen, müsse die politische Linke – sozialdemokratische und grüne Parteien – die Globalisierung bejahen und gestalten. Ein entscheidender Aspekt sei das Beibehalten aller Identitäten im Sinne von konzentrischen Kreisen. „Wir sollten stolz sein auf unsere Stadt[, ...] auf das Land [...] und auf die europäischen sowie die größeren globalen Institutionen“ (11), schreibt Crouch. Kein Land könne in der heutigen Welt alleine erfolgreich sein.

Um die Globalisierung zu begreifen, so der Verfasser, sei es notwendig, deren vier Wellen zu identifizieren und zu verstehen: den europäischen Imperialismus im 19. Jahrhundert, den Abbau der Zölle unter der Schirmherrschaft der USA im 20. Jahrhundert, die neoliberale Deregulierung unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher sowie die Bildung des europäischen Binnenmarktes, der zeitlich mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Aufstieg Chinas zusammenfällt.

Die Globalisierung habe sich als „Positivsummenspiel“ (22) erwiesen, konstatiert Crouch in Anlehnung an die volkswirtschaftliche Theorie der komparativen Vorteile, was er in einer ausführlichen Abhandlung über Gewinne und Verluste der Globalisierung darlegt. Dabei hätten vor allem die Entwicklungsländer profitiert, dank gesunkener Transportkosten und verbesserter Kommunikationssysteme. Diese Bedingungen seien allerdings unterschiedlich effektiv genutzt worden – erfolgreiche Länder hätten rechtzeitig in ihre Infrastruktur investiert und würden heute davon profitieren. Nur mit der Globalisierung sei der Kampf gegen die weltweite Armut zu gewinnen – das müssten unbedingt auch Linke verstehen.

Hätten sich die meisten Länder weltweit nicht auf die Globalisierung geeinigt, ginge es uns allen jetzt schlechter, so Crouch, denn dann „wäre der Großteil der Welt heute um einiges ärmer, das Ausmaß der illegalen Einwanderung [...] größer, die Beziehungen zwischen Staaten feindseliger“ (42, Hervorhebung im Original). Eine Rückkehr zu einer vor-globalisierten Welt sei damit auch nicht mehr möglich, es gehe gegenwärtig darum, die Globalisierung zu gestalten. Dem stehe aber die Loyalität vieler Menschen zum Nationalstaat entgegen. Dieser sei jedoch veränderbar, so Crouch, der die Verschiebung nationaler Grenzen in Europa vom Westfälischen Frieden über die Französische Revolution und den Bau der Eisenbahnen bis zur Gegenwart aufzeigt. Auch sprachliche Unterschiede seien nicht so relevant – dies sei beispielsweise den Habsburgern bewusst gewesen, die keine einheitliche Sprache in ihrem Reich forciert hätten.

Richtig sei, dass die Macht der Unternehmen angewachsen sei, was sich aber durch das Zurückdrehen der Globalisierung nicht ändern würde. Im Anschluss an den Ökonomen und Professor an der Harvard University Dani Rodrik beschreibt Crouch das gegenwärtige Problem als Trilemma zwischen Demokratie, nationaler Souveränität und globaler wirtschaftlicher Integration. Laut Crouch könne man immer nur zwei der drei Dinge haben. Also müsse das Ziel sein: „Das extreme Beharren auf Souveränität [aufzugeben], um eine demokratischere Weltwirtschaftsordnung zu schaffen, [...] die humanste und zivilisierteste aller Kombinationen, aber auch die am schwersten realisierbare.“ (82) Crouch endet mit einer hoffnungsvollen Note: Die jüngere Generation sei kosmopolitischer und liberaler und das gebe Grund zur Hoffnung.

Crouch ist in seiner Analyse der sozioökonomischen Umstände überzeugungsstark und versiert – andere Politikbereiche wie die Konflikte in der islamischen Welt werden dafür nicht ganz zielgenau eingeschätzt. Diese betrachtet er zwar auch sozioökonomisch, sieht den Grund der Konflikte aber verkürzt einzig in westlichen Invasionen. Zudem würden Frauen, die den „Hajib“ (sic!) tragen, unter der Diskriminierung der westlichen Gesellschaften leiden, da sich die Arbeiterklasse als Globalisierungsverliererin sehe. Dies ist auch soziologisch eine unpassende Erklärung der gesellschaftlichen Phänomene in Europa. Zudem ist seine Feststellung, die politische Rechte sei der Treiber der Anti-Globalisierung sicher nur zum Teil korrekt. Führende europäische Linke wie Jean-Luc Mélenchon, Sarah Wagenknecht oder auch der von Crouch unterstütze Jeremy Corbyn haben sich in ihren Ländern als führende Stimmen gegen die Globalisierung positioniert.

Crouch präsentiert dennoch ein starkes Essay für die Globalisierung, mit dem er die politische Linke direkt adressiert. Dabei beschönigt der Autor nicht die Fehler der progressiven Kräfte und wehrt sich gegen eine Romantisierung der Arbeiterklasse. Dieses spannend und informativ geschriebene Buch ist ein überzeugendes Argument für die Notwendigkeit der Globalisierung und deren progressive Gestaltung.

 

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Unter dem Einfluss von Industrieverbänden stehende Parteiapparate, Entscheidungsfindung hinter verschlossenen Türen und Schwächung der Parlamente – dies sind, so Crouch, zentrale Merkmale vieler westlicher politscher Systeme im 21. Jahrhundert. Nicht zuletzt der Diskurshoheit des Neoliberalismus sei es zu verdanken, dass sich Politiker aller Couleur der Rationalität des Standortwettbewerbs unterwürfen, die Breite des politisch zu Entscheidenden eingrenzten und somit die Möglichkeit demokra...weiterlesen

 

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Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2011 (edition suhrkamp); 248 S.; 19,90 €; ISBN 978-3-518-42274-8
Crouchs Fortsetzung seines Essays „Postdemokratie“ (siehe Buch-Nr. 34827) kommt – positiv gesprochen – einer Anerkennung des Status quo nach dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 gleich. Negativ gesprochen kapituliert Crouch vor den nach wie vor neoliberalen Verhältnissen in weiten Teilen der Welt – obschon er durchaus plausibel darlegt, dass der „Dominanz neoliberaler Ideen“ (51) historisch wie gegenwärtig nichts Naturgesetzmäßiges anha...weiterlesen

 

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Jenseits des Neoliberalismus. Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit. Aus dem Englischen von Georg Bauer

Wien: Passagen Verlag 2013; 233 S.; brosch., 19,90 €; ISBN 978-3-7092-0067-4
Eine gute Verbindung von Kapitalismus und Wohlfahrtsstaat könne nur mit einer durchsetzungsfähigen Sozialdemokratie in nationalen und internationalen Kontexten erreicht werden. Mit dieser Forderung schließt der englische Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch seine Analysen zu Sozial‑ und Wohlfahrtspolitiken in den europäischen und nordamerikanischen Staaten im Zeitalter des Neokapitalismus. Die Banken‑ und Finanzkrise offenbare ein Missverhältnis der Machtstrukturen inner...weiterlesen

 

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Markt und Moral. Im Gespräch mit Peter Engelmann. Aus dem Englischen von Georg Bauer

Wien: Passagen Verlag 2014 (Passagen Gespräche 2); 134 S.; 14,45 €; ISBN 978-3-7092-0110-7
Colin Crouch, der in „Postdemokratie“ (siehe Buch‑Nr. 34827) eine pointierte Kritik ökonomisch bedingter Erosionstendenzen moderner Demokratien vorgelegt hat, befasste sich in seinen folgenden Publikationen („Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“, siehe Buch‑Nr. 41291, sowie „Jenseits des Neoliberalismus“, siehe Buch‑Nr. 43925) mit Möglichkeiten einer Einhegung der globalisierten Ökonomie. Dieser Band enthält zwei Gespräche, die der Herausgeber der Reihe 2013 mit Crouch anlässlich der Präsentation von ...weiterlesen

 

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Essays und weitere Werke des Autors

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