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Klaus von Beyme: Migrationspolitik. Über Erfolge und Misserfolge

26.08.2020
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Autorenprofil
Dr. Maria Grazia Pettersson
Wiesbaden, Springer VS 2020

Der Titel lässt erwarten, dass in diesem Band nicht nur eine systematische Darstellung von Migrationspolitik geboten wird, sondern eher eine Bestandsaufnahme und Zusammenfassung neuerer Entwicklungen auf diesem Gebiet. Im ersten Kapitel über Theoriebildung weist Klaus von Beyme zu Recht auf den interdisziplinären und von einem Methodenmix geprägten Charakter des Politikfeldes hin. Je nachdem, ob Ursachen und Muster von Migration oder der Prozess der Aufnahme und Integration im Zielland untersucht werden sollen, unterscheiden sich die Methoden (2). Bei diesem zweitgenannten Aspekt handelt es sich eher um Integrations- denn Migrationspolitik. Es ist bedauerlich, dass diese Unterscheidung nicht getroffen wird, zumal es sich auch um unterschiedliche Akteure handelt: für Migrationspolitik sind Staaten, die Europäische Union oder die Vereinten Nationen zuständig, für die Integrationspolitik auch Akteure der Zivilgesellschaft wie etwa Religionsgemeinschaften.

Von Beyme differenziert zwischen fünf Gruppen von Migrationstheorien und erwähnt auch Franck Düvells (2006: 79 ff.) Einteilung in strukturalistische, makroökonomische, mikroökonomische und behavioristische Theorien der Migration (5). Eine umfassende Theorie der Migration(spolitik) gebe es jedenfalls nicht. Die theoriebildenden Abschnitte wechseln sich mit empirischen Darstellungen (so 18 ff.: „Das Jahr 2015 war für viele europäische Länder ein Jahr historischen Desasters“) oder mit moralphilosophischen Reflexionen (so Mark J. Millers [2017: 231 ff., 240 ff.] Forderung, nach welchen Werten Migrationspolitik bestimmt werden sollte; 19) ab.

In Kapitel zwei wird nach einer Darstellung der klassischen politischen Theorie zur Migration, wie bei Aristoteles oder Kant (23 f.), die Geschichte der Migrationspolitik seit der Industrialisierung skizziert. Schwerpunkte bilden die USA als klassisches Einwanderungsland und die deutschen Staaten (25 ff.).

Einige Theorien aus dem ersten Kapitel werden im dritten Abschnitt zu den „Soziale[n] Grundlagen von Migration“ weiterentwickelt. Die wichtigsten Nichtregierungsorganisationen der Migrationspolitik (43 ff.) stellt der Autor in Part vier dar und in Kapitel fünf beleuchtet er die Migrationspolitik der DDR – von der Anwerbung von Gastarbeiter*innen aus Vietnam und Mosambik bis zu den Repressionen des DDR-Regimes gegen die Abwanderung seiner Bürger*innen (67).

Den Schwerpunkt des Werks bildet Kapitel sechs, in dem von Beyme die Migrationspolitik der Bundesrepublik (71 ff.) thematisiert. Er beginnt mit der polnischen Migration ins Ruhrgebiet (vom Kaiserreich bis zur Gegenwart), beleuchtet dann die Politik gegenüber Spätaussiedler*innen und ethnischen Minderheiten in der Bundesrepublik sowie die Migration zwischen den beiden deutschen Staaten. Anschließend geht er auf muslimische Migration ein, wobei er weniger die integrationspolitischen Maßnahmen gegenüber Migrant*innen aus muslimischen Staaten beschreibt, sondern sich ausführlich und mit Wiederholungen mit den Einstellungen der deutschen Bevölkerung zu unterschiedlichen Aspekten des Islams befasst.

In einem weiteren Abschnitt wird dargestellt, wie das Asylrecht in der Geschichte der Bundesrepublik angewendet wurde, unter Punkt 6.5 geht es um das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie die Ankerzentren. Dargestellt werden zunächst die Gründung, Organisationsstruktur und Arbeitsweise dieser Behörden, danach wird auf neuere Entwicklungen in der Flüchtlingspolitik eingegangen. Kapitel 6.6 skizziert die verschiedenen Phasen der Einwanderung in die Bundesrepublik. Unterschieden wird zwischen einer ersten Phase der Vertreibung aus Mittel- und Osteuropa, einer zweiten bis zum Mauerbau, der anschließenden Phase der Anwerbung von Gastarbeiter*innen (1961-1973). Ferner geht es um die Umwandlung der Gastarbeiter- in eine Politik der dauerhaften Einwanderung (1973-1988), die Veränderung dieser Politik durch den Fall des Eisernen Vorhangs 1989 und schließlich die Reformen des Migrationsrechts seit dem Zuwanderungsgesetz (2001-2020). Neuere Entwicklungen der Asylpolitik bis zum Migrationspakt von 2019 werden in Kapitel sieben aufgegriffen (158).

Die Aktualität des Buches ist ein klarer Pluspunkt, allerdings hätten Kapitel sechs und sieben eine deutlichere Struktur gutgetan, etwa ein rein historischer oder geografischer Aufbau, oder einer geordnet nach verschiedenen Akteuren der Migrationspolitik.

Das letzte Kapitel acht beginnt mit den frühen Integrationstheorien der Chicagoer Schule. Hier orientiert sich der Autor wieder am Modell der Integrationspolitik und nicht an dem der Asyl- oder Migrationspolitik. Er beobachtet eine Angleichung von Migrant*innen an Deutsche in den Fragen der „Erwerbsbeteiligung, der beruflichen Stellung und des Familientyps“ (167), aber nicht der Bildungsgleichheit oder des Wohnorts. Anschließend resümiert von Beyme Misserfolge und Erfolge der Migrationspolitik.

Der Abschnitt über Misserfolge leidet darunter, dass der Autor nicht zwischen seiner eigenen Kritik und der anderer Akteur*innen unterscheidet. Als einen Misserfolg nennt von Beyme den höheren Anteil an Hartz-IV-Bezieher*innen bei Migrant*innen (20 Prozent) im Vergleich zu Deutschen (6 Prozent) oder an Schulabbrecher*innen (10 Prozent der Deutschen, 52 Prozent der Migrant*innen, 173). Andererseits fordert er von Deutschen, offener gegenüber den Migrant*innen zu sein, um ihnen Integration und das Gefühl der Zugehörigkeit zu ermöglichen (182). Von Beyme kritisiert die schlechte Zusammenarbeit der EU-Länder hinsichtlich der Frage der Verteilung von Migrant*innen und den daraus folgenden „Rückzug in die Nationalstaaten“ (177). Als Beispiel dafür wird die Freilassung der Kapitänin Carola Rackete der „Sea Watch 3“ durch italienische Gerichte genannt.

Im Part über Erfolge nennt von Beyme die Einführung von Integrationsgipfeln, die der Deutschen Islamkonferenz (204) und die bessere internationale Zusammenarbeit in Migrationsfragen durch den Migrant Integration Policy Index (MIPEX, 208). Zugleich weist er jedoch auch auf negative wirtschaftliche Folgen von Migration für die Aufnahmeländer hin, wie etwa die Belastung der Sozialsysteme (209 ff.).

Insgesamt ist dem Autor eine vielseitige Studie über unterschiedliche Aspekte des Themas gelungen, die ökonomische, juristische, moralphilosophische, sicherheitspolitische, integrationstheoretische (Assimilation, Multikulturalismus) samt Argumente der politischen Psychologie (rechtspopulistische Parteien) berücksichtigt. Eine Schwachstelle des Buches ist die mehrmalige Wiederholung der Geschichte der Einwanderung in die Bundesrepublik, ohne dass deutlich wird, welchen Zweck der jeweilige Durchgang hat. Wünschenswert wäre auch eine stärkere Trennung zwischen Theorie und Empirie sowie zwischen normativer moralphilosophischer Theorie und erklärender Theorie. Das Buch eignet sich eher nicht als Einstieg in die Migrationsforschung, sondern als vertiefende Lektüre für informierte Leser*innen mit Hintergrundwissen.

 

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