Myriam Revault d‘Allonnes: Brüchige Wahrheit. Zur Auflösung von Gewissheiten in demokratischen Gesellschaften
20.01.2021„Alternative Fakten“ oder „Fake News“ sind längst geläufige Begriffe. Sie sind Ausdruck für ein Problem, mit dem sich die Politik in den vergangenen Jahren zunehmend konfrontiert sieht: Wahrheit hat an Eigenwert verloren. Nicht mehr Fakten, sondern Gefühle und persönliche Einschätzungen prägen die öffentliche Meinung. Mit Myriam Revault d’Allonnes fragt eine französische Philosophin aufgrund des Aufkommens des Phänomens der „Postwahrheit“ unter Rückgriff auf Gedankengänge Platons, Aristoteles‘, Hannah Arendts und Michel Foucaults in der hier vorgelegten historisch-begrifflichen Genealogie nach dem Verhältnis von Wahrheitsregime und Politik sowie nach seiner möglichen Radikalisierung im Bereich des Politischen.
Eine Rezension von Günter Lipfert
„Alternative Fakten“ oder „Fake News“ sind längst geläufige Begriffe. Sie sind Ausdruck für ein Problem, mit dem wir uns seit Jahren im Bereich des Politischen kon-frontiert sehen: Wahrheit hat an Eigenwert verloren. Nicht mehr Fakten, sondern Gefühle und persönliche Einschätzungen prägen die öffentliche Meinung.
Die französische Philosophin Myriam Revault d’Allonnes nimmt ihr Erstaunen über das Aufkommen dieses Phänomens, das inzwischen mit dem Schlagwort der „Postwahrheit“ bezeichnet wird, zum Anlass, um unter Rückgriff auf Gedankengänge Platons, Aristoteles‘, Hannah Arendts und Michel Foucaults nach dem Verhältnis von Wahrheitsregime und Politik sowie nach seiner möglichen Radikalisierung zu fragen.
Dazu erschließt sie zunächst die Bedeutung des Präfixes „Post“. Anschließend ent-wirft sie zunächst eine historisch-begriffliche Genealogie. Diese setzt bei der Ursprungsdebatte zwischen Platon und Aristoteles an. Während Platon einen Gegensatz zwischen Wahrheitssuche und politischer Praxis (Vorwurf des Sophismus) sieht, wertet Aristoteles die am Wahrsprechen orientierten Meinungen auf, deren Voraussetzung das auf öffentlicher Aushandlung beruhende Urteil bildet. Die Bedingungen politischer Praxis nach aristotelischem Bild und das Gemeinsame, auf dem die politische Existenzweise beruht, werden analysiert.
Die Rhetorik habe im Aushandlungsprozess eine wichtige Rolle inne. Den Leser*innen wird vor Augen gehalten, dass die politische Sprache eine unüberwindliche Ambivalenz in sich trage: Weder sei sie mit dem Sprachgebrauch der Wahrheit noch dem der Philosophie identisch. Grund ist die Pluralität der im öffentlichen Raum artikulierten und konfligierenden Standpunkte. Diese Pluralität hilft jedoch nicht zu erklären, warum die Postwahrheit den Tatsachenwahrheiten abträglich ist. Tatsachenwahrheiten, oder auch faktische Wahrheiten, drängen sich – anders als Meinungen – auf. Sie sind aber anfällig. Diese Anfälligkeit, die sich etwa in der Auslöschung entmachteter politischer Führer zeigt, wurde schon von Arendt bei der Betrachtung totalitärer Regime festgestellt. Aber das Phänomen der Postwahrheit entspringe nicht denselben Mechanismen wie totalitäre Ideologien.
Besondere Relevanz erfahren Foucaults Konzepte der „parrhesía“ (des Wahr-Sprechens) und der Gouvernementalität, womit Erscheinungsformen neuzeitlicher Regierung gemeint sind, die das Verhalten von Individuen und Kollektiven steuern. Die Autorin hinterfragt den Verzicht auf die Unterscheidung zwischen wahr und falsch. Sie stellt unter Rückgriff auf Hannah Arendt, Paul Ricoeur, Aristoteles und George Orwell fest, dass die Lüge schon immer existiert hat, und Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit die größere Sünde darstellt. Denn der Mangel an Unterscheidung zwischen wahr und falsch führt der Autorin zufolge zum Verlust einer „gemeinsamen Welt", wie sie insbesondere Arendt und Orwell für das Funktionieren (politischer) Kommunikation als fundamental erachten.