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Ivan Krastev: Europadämmerung. Ein Essay

21.01.2020
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Autorenprofil
Prof. Dr. Rainer Lisowski
Berlin, Suhrkamp Verlag 2017

„After Europe“ lautet der englische Titel des provokanten Essays von Ivan Krastev. Mit der leicht euphemistischen Übertragung „Europadämmerung“ wurde das Büchlein auf den deutschsprachigen Markt gebracht. Krastev, der regelmäßig für die New York Times politische Analysen schreibt, wurde mit dem Werk rasch berühmt.

Es handelt sich nicht um eine empirische Studie, vielmehr um eine essayistische Analyse, die als Textgattung im angelsächsischen Raum weit verbreitet ist und auch dem kontinentaleuropäischen Diskurs guttun würde. Auf etwa 110 Seiten werden nadelspitze Gedanken präsentiert, die viele Freunde Europas schlucken lassen werden.

Krastev sieht die (westlich geprägte) Europäische Union wie den Archipel Galapagos. Weit draußen im Meer habe sich ein einzigartiges Ökosystem entwickelt – ein Biotop. Voll von sonderbaren Gewächsen und Gestalten, die nur sich selbst kennen, die aber keinen Bezug zur Welt um sie herum haben. Postmodernität und Postnationalismus, sowie eine starke Säkularisierung hätten Europa in ein solches riesiges Galapagos verwandelt. Schaue man sich dagegen anderweitig auf der Welt um – etwa Richtung China, Indien oder Russland – werde deutlich, wie isoliert Europa dastehe (US-amerikanische Städte werden dabei von Krastev ignoriert). Und für ihn ist dieses Europa keineswegs eine einsame Speerspitze des Fortschritts, ein im Moment noch allein wandernder Vorbote der Avantgarde. Verrannt habe sich dieses Europa, sei gefangen in der unausgesprochenen, unbewussten intellektuellen Idee, mit dem eigenen Modell, das „Ende der Geschichte“ zu beschreiben. Seine „liberalen Patentrezepte“ zur „Verbesserung der Menschheit“ blockierten den kritischen Blick auf sich selbst (15; 26).

Was damit gemeint ist, wird schnell deutlich. Wie ein Treibmittel habe die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 gewirkt. Von „Europas 9/11“ sprach der bulgarische Politikwissenschaftler, der es hervorragend beherrscht, Sachverhalte bis an die Grenze des Geschmackvollen zu überspitzen, an anderer Stelle. Für ihn stellt die Migration auf den „alten Kontinent“ das politische, das wirtschaftliche und das soziale Modell Europas per se infrage (18; 25).

Unter anderem an dieser Stelle rebelliere Osteuropa. Krastev arbeitet heraus, warum sich eine für den Fortbestand der Europäischen Union gefährliche neue West-Ost-Spaltung ergeben hat. Osteuropa (im Sinne von: die Mehrheit der dortigen Bevölkerung, die illiberale Parteien wählt.) empfindet seiner Einschätzung nach die kosmopolitischen Werte des westlichen Kontinents als Bedrohung für die eigene Identität. Viele osteuropäische Länder waren vor dem Zweiten Weltkrieg multikulturelle Gesellschaften, im Gegensatz zu heute. Ethnische Vielfalt erscheine daher nicht als Gewinn, als Aufbruch in eine „bunte“ Moderne, sondern im Gegenteil als ein Rückfall in schlechtere und schwierigere Zeiten. Die eben erst souverän gewordenen Staaten haderten zudem mit einer Unionsidee, die auf der französischen Vorstellung von Nation (keine ethnische Definition, sondern Loyalität gegenüber der Republik) und einer deutschen Staatsvorstellung (mächtige Länder, schwaches Zentrum) basiere. Die Identität der osteuropäischen Staaten fuße fatalerweise genau umgekehrt auf einer ethnisch basierten Idee der Nation und einer französisch anmutenden Staatsvorstellung: mächtiges Zentrum, schwache Peripherie. Zusätzlich irritiert waren nach Krastevs Einschätzung viele Osteuropäer, dass der Westen von ihnen trotz viel eingeschränkterer ökonomischer Mittel spontane humanitäre Solidarität während der Flüchtlingskrise erwartete und sich die westlichen liberalen Eliten konstant weigerten, öffentlich mögliche negative Auswirkungen von Migration einzuräumen. Dabei, so formuliert Krastev spitz, hätten osteuropäische Länder anders als die im Westen keine Last durch eine Kolonialgeschichte. Dementsprechend gebe es dort auch kein tief sitzendes Schuldgefühl, zum Beispiel gegenüber Afrika (vgl. 56 ff.; 67).

Zudem sei die Europäische Union durch den Euro in eine vertrackte Lage geraten. Den Schuldnerstaaten im Währungsverbund sei durch die Mechanismen der gemeinsamen Währung das Recht auf einen fundamentalen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik genommen worden. Sie hätten zwar weiterhin die Möglichkeit, ihre Regierung auszutauschen – nur leider habe diese kaum mehr wirtschaftspolitischen Spielraum, da der Euro ihn einenge. Die drei Pole Globalisierung, Demokratie und nationale Selbstbestimmung sieht er als tendenziell antinomische Ziele an, deren gleichzeitiges Erreichen unmöglich sei. Die meisten Regierungen erklärten ihren Wählern aber unverdrossen genau dies und heraus komme ein toxischer Mix: Demokratie ohne echte Wahl, Selbstbestimmung ohne echte Bedeutung und Globalisierung ohne echte Legitimation (79, 82 f.).

Letztlich sei auch das westeuropäisch-meritokratische Weltbild ins Wanken geraten. Der Brexit-Befürworter Michael Gove habe es auf den Punkt gebracht: Die Menschen hätten genug von Experten. Boshaft skizziert Krastev meritokratische Eliten als eine Art „Söldnerelite“: Der akademische Erfolg werde von den Anhängern der Meritokratie unzutreffenderweise umgemünzt in die Überzeugung, mehr und härter als andere gearbeitet zu haben. So entstehe eine Gesellschaft aus tendenziell arroganten Gewinnern und zunehmend verzweifelten Verlierern. Letztere fürchten (vermutlich zu Recht), dass ihre akademisch erfolgreichen und mobilen Eliten, anders als die klassischen aristokratischen, nicht am Land hängen, sondern bei Problemen einfach woanders hingingen. Alte aristokratische Eliten wären zu Pflichtgefühl dem Land (durchaus im Sinne von: der Scholle) gegenüber erzogen worden und die neuen Eliten dazu, Politik, Wirtschaft, Justiz, Medien und Kultur zu regieren – aber nicht, selbst Opfer zu bringen. Zumindest nicht solche, die über das Zahlen von Steuern hinausgingen. Populisten versprächen diesen Menschen nun, sie gerade nicht nach ihren Verdiensten zu beurteilen. Sie versprächen ihnen hingegen bedingungslose Solidarität und nationale Intimität (103 ff.).

Im Inneren fast aller europäischen Länder gäre es entsprechend. Die alte ökonomische Gegenüberstellung von „links gegen rechts“ schleife sich ab und es entstehe eine neue Konfliktlinie, die auf der Frage zwischen offenen und geschlossenen Gesellschaftsmodellen und der nach den prägenden politischen Identitäten basiere. Auf der einen Seite stünden die „Überall-Leute“, die ihre „erworbene Identität“ überall hin mit sich tragen könnten und diese vor allen Dingen an ihrer Bildung und ihrem beruflichem Erfolg festmachten – und denjenigen, die als „Irgendwo-Menschen“ parochial verwurzelt sind (42 f.).

Die liberalen Eliten würden all das nicht verstehen (siehe oben: Sie kämpfen doch für das Gute!) und darin ein riesiges Missverständnis sehen: „Diese Eliten halten die politische Krise der EU in erster Linie für eine Kommunikationskrise und meinen, Brüssel hätte seine Politik nur nicht überzeugend erläutert.“ (109) Ihre Strategie besteht also vor allem darin, darauf zu hoffen, dass die anderen zur Besinnung kämen, wenn man ihnen die Welt nur gut genug erklärte.

Mit kritischen Bemerkungen in Richtung Osteuropa wird übrigens keineswegs gespart. So spricht er vom „Schönwetterdemokratien“. Deren Bürger seien seiner Einschätzung nach zwar durchaus EU-freundlich, wählten aber antiliberale Parteien, mit denen sie sich stärker identifizierten. Auch weil sie sich klammheimlich auf die Europäische Union verließen und darauf vertrauten, dass die schlimmste Verantwortungslosigkeit der von ihnen gewählten Regierung durch den europäischen Rahmen gedämpft werde und sie so ihrer Enttäuschung und Wut durch die Wahl populistischer Parteien hemmungslos Ausdruck geben könnten (85 f.). Ein solches Verhalten darf man getrost verantwortungslos nennen.

Krastev zeichnet für einen Westeuropäer glaubhaft Stimmungslagen nach. Der Empiriker will aber einwenden: Kluge Gedanken – nur wo ist der Beweis? Es handelt sich eben um ein Essay, eine Denkschrift, nicht um ein politikwissenschaftliches Forschungswerk.

 

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