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Theo Sommer: China First. Die Welt auf dem Weg ins chinesische Jahrhundert

04.07.2019
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Autorenprofil
Prof. Dr. Rainer Lisowski
München, C. H. Beck 2019

Die rücksichtslose Polemik eines hemdsärmeligen Staatschefs wie Donald Trump erklärt gut Parolen wie „America first!“. Aber wären von dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping, oft als bedächtig lächelnde Sphinx beschrieben, Sätze wie „China first!“ zu erwarten? Wohl eher nicht. Auch der langjährige ZEIT-Herausgeber Theo Sommer glaubt selbst nicht an den gleichnamigen, vermutlich absatzfördernden und etwas reißerischen Titel seines Buches. Denn seine gut 450 Seiten lange Analyse Chinas zeichnet sich vor allem durch sorgsames Abwägen und viele Details aus.

Vor über vierzig Jahren zählte Sommer zu den ersten Autoren, die in der Bundesrepublik ausführlich über China schrieben – sogar noch vor dem Zeitpunkt eines zunächst langsamen und dann dramatisch schnellen Erwachens des Landes. Nach gut sechsundvierzig Jahren noch einmal umfangreich über das Land zu berichten, nennt er als Motivation für das Werk.

Das Buch ist grob in vier Teile gegliedert: Einer Art Vorspann, in dem Sommer auf vierzig Jahre als China-Kenner und Beobachter zurückblickt, folgt eine Übersicht seines wirtschaftlichen Aufstiegs. Daraus resultiert eine Analyse seiner (geo-)politischen Rolle und letztlich ein Kapitel, in dem er Bruchstellen und Spannungslinien Chinas mit Nachbarn und dem Westen analysiert.

Journalistische Literatur zum Aufstieg Chinas hat eine rechte Hausse in den vergangenen Jahren erlebt. Fast alle China-Korrespondenten der großen Zeitungen haben ein mindestens ein Buch verfasst. Um also nach Besonderheiten Ausschau zu halten, sollte sich jede Leserin und jeder Leser nach Durchsicht des Inhaltsverzeichnisses vier Fragen stellen:

Erstens: Stellt Sommer neue Facetten des wirtschaftlichen, politischen und militärischen Aufschwungs Chinas vor, die über das hinausgehen, was aufmerksame Zeitungsleser täglich verfolgen können?

Zweitens: Trifft der Autor eine klare Aussage zu Chinas großem Prestige-Projekt, der Belt and Road Initiative (BRI)?

Drittens: Wie bewertet Sommer die derzeit akuten Konflikte im Südchinesischen Meer?

Viertens: Glaubt der Verfasser, dass China eher ein Global Player auf Augenhöhe der USA sein wird oder bleibt es bei Deng Xiaopings alter Devise, nach innen zu schauen und außenpolitisch unterhalb der eigenen Gewichtsklasse zu spielen?


Die erste Frage lässt sich klar verneinen. Der Abschnitt „Wirtschaftliche Supermacht mit Plan“ (59-168) liest sich – wohlmeinend betrachtet – als ausführlicher Wirtschaftsteil einer Qualitätszeitung und boshaft betrachtet als Datenfriedhof. Sommer zeichnet vor allem das Bild einer Wirtschaftsmacht, die nach einer zweihundertjährigen, von Rückschlägen gezeichneten Phase wieder an ihren „angestammten“ Platz in der Welt zurückkehren will. Deren Führungskräfte haben dies fest im Blick und lenken nach dem nötigen Wiederaufbau nun Investitionen sehr schlau in solche Zukunftsbranchen, in denen sich künftige Industriestandards für die Weltwirtschaft (ICT, Gentechnologie) mit Vorsprung vor dem Westen setzen lassen. Globale Investitionen der vom Staat fest gelenkten „China AG“ werden nachgezeichnet – es wird aber auch nicht verschwiegen, dass an vielen Stellen kopflose Überinvestitionen die Folge einer fortgesetzt starken staatlichen Lenkung von Ressourcen sind.

Die Antwort auf die zweite Frage nach einem Urteil über die Belt and Road Initiative fällt schwieriger. Sommer beschreibt das Vorhaben ausführlich, ohne denjenigen, die sich länger schon mit dem Thema befassen, etwas Neues zu bieten. Für jemanden, der eine komprimierte Übersicht sucht, ist das entsprechende Kapitel (211-249) lesenswert. So richtig ringt sich Sommer zunächst aber nicht zu einer Antwort durch, ob es sich nun um ein Projekt handelt, das anderen Ländern – neben berechtigtem Eigeninteresse – Entwicklungschancen bietet, oder ob es sich um eine Art Welteroberungsplan handelt. Erst ganz am Ende seines Buches trifft er eine klare Aussage: „[Chinas] Seidenstraßenprojekt ist klassische Großmachtpolitik“ (431).

Noam Chomsky hat in einem kürzlich veröffentlichten Buch über die globale Rolle der USA diese gewohnt kritisch beleuchtet. An vielen Stellen schießt er damit weit über das Ziel hinaus – aber in einem Punkt zieht er einen nicht unpassenden Vergleich: Die USA würden die vor ihrer Haustüre liegende Karibik als ihr Meer betrachten und nicht dulden, keine Oberhoheit über diese Gewässer zu besitzen. Sommer greift diesen Gedanken bei seiner Analyse von Chinas Verhalten im Südchinesischen Meer auf (283). Aber auch hier wird seine Position nicht so richtig deutlich, der Autor schlüpft mehr in die Rolle des Chronisten, der berichtet, was geschieht.

Bleibt noch die Antwort auf die letzte der vier aufgeworfenen Fragen: Wird China eine selbstbewusstere oder vielleicht gar aggressivere Außenpolitik betreiben und von der Deng’schen Devise, das Licht unter den Scheffel zu stellen, abweichen? Zusammenfassend könnte man sagen, Sommer beschreibt aus seiner Sicht den Punkt des Umschwungs. Er glaubt, genau das finde zurzeit statt, auch wenn sich die Auswirkungen noch nicht überall zeigten.
Den eiligen Leser*innen seien die interessantesten Seiten des Buches von Seite 428 bis 440 empfohlen. Sommer fordert, sich von vier Illusionen zu verabschieden:

Erstens: Die westlichen Demokratien hätten nach dem Ende des Kalten Krieges nicht „gesiegt“, sie seien heute oftmals kein Vorbild mehr für die Welt.

Zweitens: China werde so schnell keine Demokratie – auch nicht mithilfe von Wandel durch Handel.

Drittens: China lasse sich vom Westen nicht belehren, schon gar nicht was Gewaltenteilung und Einschränkung der Staatsmacht angehe, denn zu tief sitze die kollektive Erfahrung, dass China immer nur dann in seiner langen Geschichte wohlhabend war, wenn die Zentralmacht stark gewesen sei.

Viertens: China werde sich nicht anders als andere Großmächte bei seinem Aufstieg verhalten. China sei nicht weiser oder gereifter als andere Mächte vor ihm. Ebenso wie von diesen Illusionen müsse man sich aber auch von drei Obsessionen befreien: China sei keineswegs stark genug, der Welt seine Ordnung allein aufzuzwingen. Das Land werde aber auch nicht, wie Pessimisten meinen, in der Schuldenfalle oder der Middle-Income-Trap stecken bleiben. Und in keiner Weise sei eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen China und dem Westen (lies: USA) vorprogrammiert.


Sommer plädiert zum Schluss für eine realistische China-Politik Europas: Das Land sei kein Entwicklungsland mehr, habe aber wie alle anderen Nationen auch jede Menge innere Probleme zu lösen, die es erstmal ausreichend beschäftigten. Europa brauche als Antwort auf den chinesischen Staatskapitalismus aber endlich eine eigene Industriepolitik und Brüssel müsse sich gegen Spaltversuche (egal ob aus Peking, Moskau oder Washington) wappnen.

Noch drei abschließende Bemerkungen: Aus wissenschaftlicher Sicht ist problematisch, dass Sommer die mannigfaltigen Fakten und Aussagen an fast keiner Stelle mit Quellen belegt. Auch ist das Buch deutlich zu lang geraten. Einhundert bis einhundertfünfzig Seiten weniger hätten ihm gut getan. Und sehr viel interessanter hätte ein Buch sein können, in dem der Autor über persönliche Begegnungen mit hochrangigen Politikern und Entscheidern in China während der vergangenen Jahrzehnte berichtet und den Wandel als Zeitzeuge dokumentiert hätte. Dies geschieht aber wesentlich nur im ersten Abschnitt des Buches („China erwacht“, 33-58). Dieser ist entsprechend spannend zu lesen. Der Rest ist ein wenig me too verglichen mit den vielen anderen Büchern auf dem Markt.

 

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Rezension

Kerry Brown

Die Welt des Xi Jinping. Alles, was man über das neue China wissen muss

Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag 2018

Kerry Brown bietet keine kritische Besprechung der chinesischen Regierungspolitik oder der neuen Ideologisierung, sondern interpretiert Xi Jinpings Handlungsmotive und erläutert so dessen Politik. Gefragt wird nach seinen Absichten, aber auch, welche Erfolge er vorweisen kann. Das Fazit fällt nüchtern aus: Brown sieht die einzige Aufgabe Xis aktuell darin, die bis dato erfolgreiche Entwicklung der Volksrepublik „nicht kaputt“ zu machen. So plausibel die Darstellung insgesamt ist, fehlt dennoch eine Problematisierung der Gefahren durch den erstarkenden Nationalismus – für China selbst, aber auch für dessen internationale Rolle.
weiterlesen 

 


Lektüre

Gudrun Wacker
China: Kooperationspartner oder Systemrivale der EU?
SWP, Kurz gesagt, März 2019

 

Daniel Voelsen
Wirtschaftsmacht China - Der gefürchtete Aufsteiger – Konkurrent und Handelspartner
in: Deutschlandfunk Kultur, Zeitfragen, 25. Juni 2019


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China und die globalisierte Welt

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