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Manfred Gerstenfeld: Anti-Israelismus und Anti-Semitismus

09.07.2019
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Autorenprofil
Vincent Wolff, M.P.P.
Stuttgart, Verlag W. Kohlhammer 2018

Einschätzungen und Beobachtungen

„Anti-Semitismus mutiert zu Anti-Israelismus“ (15), schreibt der Publizist und ehemalige Vorsitzende des Präsidiums des Jerusalem Center for Public Affairs Manfred Gerstenfeld einleitend. Dieses gedankliche Motiv durchzieht in mehr oder weniger kohärenter Weise seinen Sammelband. Gerstenfeld eröffnet mit einer historischen roten Linie, die sich aus dem Mittelalter mit der Tötung des angeblichen Gottessohnes über das Dritte Reich bis zum heutigen Israel-Hass ziehe. Dem gemeinsam sei vernichtender Hass, so der Herausgeber. Dies belegt Gerstenfeld mit globalen Umfragen zu öffentlichen Einstellungen gegenüber Israel. Im Folgenden greift der Herausgeber verschiedene Beispiele heraus, bevor er andere Autor*innen zu Wort kommen lässt. Das Buch selbst versteht sich weniger als eine wissenschaftliche Abhandlung, sondern vielmehr als ein Sammelsurium an verschiedenen Anekdoten. Daher sollten verschiedene Beobachtungen von Gerstenfeld mit Vorsicht genossen werden. So schreibt der Herausgeber, Antisemitismus sei in den ehemaligen Ostblockstaaten verschwunden, während er nun hauptsächlich in den muslimischen und arabischen Staaten zu finden sei. Dies unterschlägt den bereits seit fast hundert Jahren virulenten Antisemitismus in vielen arabischen Staaten sowie bedeutende Ausnahmen wie den Iran. Zugleich ist der Antisemitismus in einer Reihe von osteuropäischen Staaten, wie etwa Polen, keinesfalls verschwunden. Für Gerstenfeld hingegen stellt die Hauptgefahr für jüdisches Leben in Europa „die unkontrollierte Masseneinwanderung“ (26) dar; denn muslimischer Antisemitismus habe sich in der jüngeren Vergangenheit als größte Gefahr für Leib und Leben erwiesen. Dennoch sei Judenhass kein rein muslimisches Phänomen – eine Erkenntnis, die Gerstenfeld kurioserweise an anderer Stelle betont. Diese Inkohärenz prägt den gesamten Sammelband.

Grob unterteilt sich das Buch in zwei Hauptteile: Anti-Israelismus und Anti-Semitismus. Dabei werden beide Themenbereiche in beiden Abschnitten angerissen, sodass diese Unterscheidung künstlich wirkt. Im ersten Teil arbeitet sich eine Vielzahl an Autor*innen an einer noch größeren Anzahl an Organisationen ab: von verschiedenen UN-Organisationen, der Europäischen Union, der katholischen Kirche über die New York Times und die deutschen Medien. Die Mehrzahl dieser Beiträge umfasst maximal drei Seiten und ist anekdotischer Natur. Kritisiert werden darin einzelne Vorgänge in bestimmten Organisationen. Nur selten werden tiefere Analysen eingestreut. Der deutsche Politikwissenschaftler Matthias Küntzel ist hier lobend hervorzuheben, dem es gelingt, „bedeutende Elemente des Einflusses Nazideutschlands“ auf arabische Staaten aufzuzeigen, die „bis heute Bestand“ (69) haben.

Zudem widersprechen sich die unterschiedlichen Autor*innen mehrfach. So warnt Jim Fletcher, das Wachstum der amerikanischen evangelikalen Christen führe zu einem Erstarken der pro-palästinensischen Kräfte, die dort viel Erfolg hätten. Dem widerspricht Hans Jansen und sieht stattdessen dank der Evangelikalen das große Zeitalter der Israel-Solidarität anbrechen.

An die hundert Autorinnen und Autoren haben für diesen Sammelband kurze Texte verfasst. Darunter befinden sich im zweiten Teil über Anti-Israelismus zahlreiche wichtige und detaillierte Beobachtungen aus unterschiedlichen Ländern. So schreibt Afshin Ellian über die Komplexität der Lage, die er als eingewanderter Iraner in den Niederlanden wahrnimmt und wo er Integrationsschwierigkeiten von anderen arabischen Menschen feststellt. Gerade die länderspezifischen Artikel sind erhellend. Positiv sind hier vor allem Anton Pelinkas Beschreibung des österreichischen Antisemitismus und Efraim Zuroffs Beitrag über antisemitische Einstellungen in den baltischen Staaten zu erwähnen.

Doch auch problematischere Inhalte finden sich in dem Werk. So insinuiert Ivar Fjeld, das wahre Problem auf Utoya sei der Israelhass, der dort gepredigt werde. Den Terroranschlag von Anders Breivik erwähnt er nur kurz und zieht implizit eine Linie dazu, dass „den Gemütern der Kinder ab 14 Jahren die Parteiideologie [eingeimpft]“ werde (99). Man habe „bis zu den fürchterlichen Morden Breiviks warten [müssen], um etwas über die anti-israelischen Aktivitäten zu erfahren“ (101).

In einem weiteren Beitrag wird von der mächtigen Saudi-Lobby geraunt, die Washington kontrolliere und die Fäden ziehe und in einem anderen Text werden „Israelis und Juden im Ausland“ als „Israels Hauptgegner“ (141) gebrandmarkt. Allzu oft arbeiten sich die Verfasser*innen an Intimfeinden ab und schrecken auch vor argumenta ad hominem nicht zurück. Vorurteile gegenüber Israel seien oftmals auf persönliche Motive zurückzuführen. So schreibt Jehudi Kinar über einen belgischen Bürgermeister, der palästinensische Kinder zum Austausch nach Belgien eingeladen habe: „Im Juni 2010 ehelichte der nicht mehr ganz so junge (nämlich 72-jährige) Bürgermeister eine Frau mit muslimischen Hintergrund“ (176). Über die Niederlande schreibt der ehemalige rechtspopulistische Abgeordnete Wim Kortenoeven: „In der Arbeitspartei ist die Lage schlecht. Eine Vielzahl ihrer Funktionäre sind Muslime.“ (178) Es sind Beiträge wie diese, die jeglicher argumentativer Grundlage entbehren und dem Ansinnen, über Israel und Antisemitismus zu schreiben, einen Bärendienst erweisen.

Zudem sind viele Beiträge bereits über fünf Jahre alt und verlieren damit an Aktualität. Außerdem liest sich das Buch wie eine holprige Übersetzung und die Rechtschreibung leidet vor allem gegen Ende des Bandes. Offensichtlich sind die einzelnen Beiträge auch nicht von den angegebenen Autorinnen selbst verfasst, sondern fußen auf Interviews, die selbige mit dem Herausgeber geführt haben. Dies führt zu einem seltsamen Springen in der Erzählweise zwischen der Ich-Form und kursiven Einschüben wie „dem fügt Levin hinzu“ (138). Dies schadet dem Lesefluss und senkt die Qualität des Sammelbands. Unter dem Strich wären ein aufmerksameres Lektorat und eine inhaltliche Kohärenz zu wünschen gewesen.

 

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