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Donald Abenheim / Uwe Hartmann (Hrsg.): Tradition in der Bundeswehr: Zum Erbe des deutschen Soldaten und zur Umsetzung des neuen Traditionserlasses

14.06.2019
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Autorenprofil
Michael Rohschürmann
Berlin, Miles-Verlag 2018

„Die Tradition der Bundeswehr ist der Kern ihrer Erinnerungskultur. Sie ist die bewusste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in gewachsenen Ausdrucksformen. Tradition ist damit Bestandteil des werteorientierten Selbstverständnisses der Bundeswehr mit ihren militärischen und zivilen Anteilen. Sie festigt deren Verankerung in der Gesellschaft. Als geistige Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft verbindet Tradition die Generationen und gibt Orientierung für das Führen und Handeln.“ Mit diesen Sätzen beginnen die neuen „Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege“ der Bundeswehr, unterzeichnet am 28. März 2018 in Hannover von der Bundesministerin der Verteidigung.

Ob der Erlass dem gerecht wird, ist umstritten – nicht zuletzt, weil nicht die veränderte Bedrohungslage, die deutsche Wiedervereinigung oder die Realität der Einsatzarmee den Ausschlag zu einem neuen Traditionserlass gaben. Den Auslöser für die unter den veränderten sicherheitspolitischen Bedingungen längst überfällige Überarbeitung des Traditionserlasses – der Vorgänger stammte von 1982 – stellten eine Reihe von Skandalen dar. Zu nennen sind hier die vermeintlichen Rituale in Pfullendorf und der Skandal um Oberleutnant Franco A., der sich als syrischer Flüchtling anerkennen ließ und möglicherweise rechtsterroristische Aktionen plante. Diese Vorfälle führten zur Entscheidung 2017, alle Kasernen nach sogenannten Wehrmachtsdevotionalien durchsuchen zu lassen. Diese Aktion kommentiert Donald Abenheim, Associate Professor im Department of National Security Affairs an der Naval Postgraduate School in Monterey/CA, bissig aber zutreffend: „Aussortierte Gegenstände des militärischen Alltags, Waffen und Helme waren plötzlich allgegenwärtig. Es wurde behauptet, diese Objekte besäßen die Macht, Soldaten zu den Klängen von ‚Schwarzbraun ist die Haselnuss‘ in Feinde der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu verwandeln“ (117 f.).

Der Sammelband der Herausgeber Donald Abenheim und Uwe Hartmann versammelt eine Reihe von Beiträgen namhafter Autor*innen mit militärischem, aber auch zivilem Hintergrund, und ermöglicht dadurch, einen differenzierten Blick auf das Thema der militärischen Tradition im Allgemeinen und der Bundeswehr im Speziellen.
So vermuten Heiko Biehl und Nina Leonhardt, dass die im neuen Erlass angeordnete Fokussierung auf die bundeswehreigene Geschichte dazu führe, dass die Aufbaugeneration (die aus Angehörigen der Wehrmacht bestand) zukünftig kritischer unter die Lupe genommen werde und die Debatte deshalb weiterhin im Schatten der Wehrmacht stattfinden werde.

Die Historikerin Sarah Katharina Kayß argumentiert in ihrem Artikel „Tradition und Identität“, der auf Interviews mit jungen Offizieren und Offiziersanwärtern beruht, dass eine zu starke Betonung der NS-Vergangenheit und ein vorgegebenes Geschichtsbild als erdrückend empfunden werden. Gleichzeitig biete die deutsche Geschichte als positiver Motivationsimpuls auch Möglichkeiten: „wenn auch nur in der Abgrenzung zu ihr. [...] Ziel der angehenden Offiziere war es, ihr Wissen um die Vergangenheit aktiv einzusetzen, um Menschenrechtsverletzungen in der Gegenwart entgegenwirken zu können“ (240 f.) – insgesamt ein Plädoyer dafür, den Angehörigen einer seit drei Generationen demokratischen Armee mehr historischen Sachverstand zuzutrauen als dass sie sich von sogenannten ‚Wehrmachtsdevotionalien‘ gleich wieder zum Nationalsozialismus verführen ließen.

Winfried Nachtwei beleuchtet das Thema Tradition aus politischer Sicht. Dabei stellt er fest, dass die Aufgabe der Politik in einem demokratischen Staat nicht nur darin bestehe, bei Skandalen „Linienrichter“ (106) der militärischen Tradition zu sein, sondern den gesamten Prozess der Traditionsbildung konstruktiv zu begleiten.

Durch das gesamte Buch zieht sich eine Frage, die zwar nicht angesprochen, aber immer vorhanden ist: Ist der Soldatenberuf ein Beruf sui generis? Von politischer Seite wird dies gerne mit Verweis auf den ebenfalls gefährlichen Einsatz von Polizisten oder der Feuerwehr verneint. Dabei werden bestimmte Kernelemente der soldatischen Realität (absichtlich?) ignoriert: In keinem anderen Beruf sind Mitarbeiter verpflichtet, ihre Aufgaben auch im Wissen um den Preis des eigenen Todes zu erfüllen. Zudem ist nicht das Sterben das bestimmende Element des Soldatenberufes, sondern das Töten. In keinem anderen Beruf gehört das Töten anderer Menschen zum Teil des Handwerkes. Am deutlichsten kommt das Thema im Beitrag von Marc-André Walther, selbst Offizier, zum Ausdruck.

Unter dem Titel „Tradition und Kampf“ problematisiert er die fehlende gesellschaftliche Anerkennung militärischer Eigentümlichkeiten (kämpfen und töten) im Allgemeinen und die Leistungen der „Generation Einsatz“ im Besonderen. „Darum hat Tradition für den Soldaten eine andere, sehr viel unmittelbarere Bedeutung, als sie in der Gesellschaft wahrgenommen wird“. „Kampf [ist] das zentrale Element des Dienstes in der Bundeswehr.“ (193) Dabei stellt er fest, dass eine militärische Tradition eben nicht nur für die Gesellschaft – im deutschen Fall eine Gesellschaft die Angst vor ihrer Armee hat – funktionieren muss, sondern auch dem einzelnen Soldaten bei seinem Handwerk „eine Richtschnur für richtiges Verhalten“ (187) geben soll. „Tradition zeigt dem Soldaten aber nicht nur, wie er sich verhalten soll, sie zeigt vielmehr auch, wie er sich nicht zu verhalten hat.“ (187) Aus diesem Grunde wäre eine offenere Diskussion über die Rolle einiger Angehöriger von Wehrmacht und NVA durchaus wünschenswert und könnte die politische Bildung in den Streitkräften auch bereichern. Wie die Herausgeber in ihrer Einleitung zu bedenken geben, hatte die stärkere Betonung des Kampfes jedoch vermutlich kontroverse politische Debatten ausgelöst und den bestehenden Konsens rund um die Neufassung des Traditionserlasses gefährdet.

Einige weitere Themen ziehen sich quer durch alle Beiträge. Vor allem sind dies die Diskussion über den generellen Ausschluss der NVA aus der Traditionslinie der Bundeswehr, die Bewertung beziehungsweise die mögliche oder notwendige Neubewertung der ersten Bundeswehrgeneration und die generelle Forderung nach einer höheren gesellschaftlichen Anerkennung des Soldatenberufes.

Mit der allgemeinen Vernachlässigung der Inneren Führung, die mehrere Autoren konstatieren, ist ein wichtiges Thema und gleichzeitig eine Handlungsaufforderung für Politik und militärische Vorgesetzte angesprochen.

Unverändert unbeantwortet bleibt sowohl im Erlass als auch in den Beiträgen des Buches die Frage nach dem gültigen Erbe des deutschen Soldaten. Dennoch, das Buch ist nicht nur lesenswert, sondern gibt auch Anregungen für die künftige Auseinandersetzung zur Bewahrung einer traditionellen Verbindung zwischen den Soldatengenerationen.

Es bleibt zu hoffen, dass das selbstgesteckte Ziel der Herausgeber – nicht nur zur Debatte beizutragen, sondern auch einen Rahmen für eine konstruktive Nutzung des Traditionserlasses im Rahmen der politischen Bildung der Streitkräfte zu schaffen – erfüllt werden kann.

 

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Lektüre

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