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Tom Mannewitz / Herrmann Ruch / Tom Thieme / Thorsten Winkelmann: Was ist politischer Extremismus? Grundlagen – Erscheinungsformen – Interventionsansätze

15.10.2018
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Autorenprofil
Dr. Arno Mohr
Frankfurt am Main, Wochenschau Verlag 2018

Für alle politischen Strömungen, die den demokratischen Verfassungsstaat ablehnen, lassen die Autoren nur einen Begriff des Extremismus gelten. Mit solch einem Schritt ziehen sie eine klare Demarkationslinie zu einem von ihnen so bezeichneten „dynamischen Extremismusansatz“ (9), der auf das Moment der Interaktionen der Extremismen mit der an sich verfassungskonformen Mehrheitsgesellschaft abziele. Für diese methodische Herangehensweise sollen drei Gründe ausschlaggebend sein: (1) Kern des demokratischen Selbstverständnisses bilden die zentralen Merkmale der demokratischen Grundordnung: Volkssouveränität, Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit; (2) gemeinsames Charakteristikum der behandelten Extremismen ist ihr Antipluralismus und (3) mit dem normativen Extremismuskonzept liegt „eine handliche Terminologie“ zur Bestimmung und Analyse „antidemokratischer“ (9) Bestrebungen vor. Auf Seite 18 wird diese Liste durch die als irreduzibel angesehenen Leitnormen Grund- und Freiheitsrechte der Bürger, Interessenpluralismus, Recht auf politische Betätigung sowie Anspruch auf „faire […] Wahlen“ erweitert. Die zweite mögliche Zugangsweise zu dem Phänomen Extremismus wird als „dynamischer“ Ansatz bezeichnet, der mit den Vorwürfen „eindimensional“ und „unterkomplex“ (ebd.) abgewertet wird.

Die normativistische Prämisse

Der dynamische Extremismusbegriff sucht die Schablonenhaftigkeit und eine daraus herrührende Sterilität der herkömmlichen Begriffsvarianten aufzubrechen, indem er nicht nur die Wandelbarkeit gesellschaftlicher und politischer Phänomene in Rechnung stellt, sondern darüber hinaus großen Wert auf die Berücksichtigung von Einstellungen und Verhaltensweisen von Extremisten, ihren Bestimmungsgründen und Verlaufsformen legt. Er wendet sich gegen eine gewisse Sakralisierung eines gegebenen Ist-Zustandes von Demokratie, in welchem bereits a priori definiert ist, was „demokratisch“, was „antidemokratisch“, eben „extremistisch“ sei. Das Forschungsprogramm des dynamischen Extremismusbegriffs zentriert darin herauszufinden, warum jemand zum Extremisten, Radikalen oder gar Terroristen wird und welche Voraussetzungen dafür gegeben sein müssen.

Dieses unterstellte Faktum der Devianz muss sich immer messen lassen, so die normativistische Schule, an einem tertium comparationis – dieses lässt sich umschreiben als die normativierten Grundprinzipien des demokratischen Gemeinwesens, die, durch legitimierte Kodifizierung und höchstrichterlichen Entscheidungen mit rechtsstaatlichen Sanktionsinstrumenten und gesellschaftlicher Ächtung ausgestattet, aufrechtzuerhalten sind und präventiv und repressiv geschützt werden müssen („wehrhafte Demokratie“ gegen die Verächter der Demokratie). Vertreter des normativistischen Paradigmas wie die Autoren argumentieren daher, dass die „Dynamiker“ von Voraussetzungen auszugehen nicht umhinkommen, die wiederum auf demokratischen Werthaltungen beruhen. Insofern erscheinen sie als Gefangene ihres eigenen Ansatzes, weil sie ohne normative Prämissen die Extremismusproblematik verfehlen würden. (8)

Dass die Normativisten gleichsam ein geschlossenes Bild des demokratischen Verfassungsstaats als Grundlage ihrer Betrachtungen nehmen, zeigt sich daran, dass sie zwischen einem „harten“ und einem „weichen“ Extremismus unterscheiden. (22) Die „harte“ Variante wird mit Gewaltbereitschaft und tatsächlichen Gewaltaktionen koinzidiert. Die „weiche“ Extremismusdefinition hingegen, soweit sie sich auf die Aktionsformen und die ideologischen Argumentationskorridore ihrer unterschiedlichen Richtungen bezieht, umschließt auch, und darin spiegelt sich das Bild einer „closed democracy“ und ihre – simplifizierende – verschiebungsresistente Festschreibung wider, nicht allein auf die Momente der Gewaltexzesse. Sie erstreckt sich auch auf Strategien, die sich der Mittel der demokratischen Grundordnung bedienen wie Parteiformierung, Bereitschaft zur Wahlbeteiligung, gewaltlose Aktionen mit Subversivitätscharakter, Demonstrationen, Meinungsbeeinflussung in Medien oder Bildungseinrichtungen im weitesten Sinne und Verbandsarbeit. Dies alles geschieht zwar in konfliktorischen Bahnen, aber gewaltfrei. Trotzdem argwöhnen die Autoren: „Wer Gewalt ablehnt, ist noch lange kein Anhänger des demokratischen Verfassungsstaates.“ (22) An dieser Stelle muss eingewandt werden: Überdehnung des Kritikbegriffs.

Zwangsläufig präformiert diese Motivierung die Konturen und die Analyseschritte der Arbeit. Die Darstellung der für Deutschland wichtigsten extremistischen Gruppierungen und Bewegungen umfassen den Rechts- und den Linksextremismus sowie den Islamismus. Die Autoren gehen davon aus, dass die Kriterien Ideologie, (Nicht-)Parteiförmigkeit, andere Organisationsformen oder – im Falle des Islamismus, besonders in seiner salafistischen Ausprägung – das radikalisierte Gruppenerlebnis wesentlichen Aufschluss über die Denk- und Arbeitsweise der drei Extremismen geben können (Teil 2). Ein Vergleich europäischer Extremismen erfolgt in Teil 3, abgerundet wird der Band durch eine Erörterung zu Aspekten des Demokratieschutzes in Deutschland und auf der europäischen Ebene (Teil 4).

Über die Zukunft des Rechtsextremismus

Im Folgenden sollen lediglich einige Stichworte zu markanten Aspekten der Extremismen gegeben werden. Der Rechtsextremismus fußt auf diffusen Ideologemen wie völkischer Nationalismus, biologisch-kultureller Rassismus, Antisemitismus. Die diversen Parteien, Gruppierungen und Einzelkämpfer mit Schwarmcharakter verhalten sich parasitär, wenn sich ihr politisches Verhalten an gesellschaftlichen Entwicklungen festmacht, die reich an Konflikten sind und negative Stimmungen in der Bevölkerung erzeugen sowie ein unterschwellig vorhandenes rechtsextremes Bewusstsein wecken, das sich in realen Gewaltaktionen ausdrücken kann. Aufstoßen muss die Feststellung, dass die rechtsextremistischen Parteien und Organisationen über keine Massenbasis verfügten und die gesellschaftlichen Eliten nicht zu penetrieren oder gar sich in ihnen festzusetzen vermochten. (73) Eine solche waghalsige Behauptung lässt sich nur dann mit viel Wohlwollen aufrechterhalten, wenn man sich nur auf die NPD, die DVU und die Republikaner bezieht, aber die AfD einfach wegretuschiert. Die AfD kommt nur am Ende dieses Abschnitts und mehr beiläufig vor. Dort wird ihr Einzug in die Parlamente im Bund und in den Ländern erwähnt, mehr aber auch nicht. Sehr problematisch, um nicht zu sagen: absurd ist es, sie lediglich als „Flügelpartei der Rechten“ (74) zu klassifizieren. So gesehen lässt sich leicht eine Art Friedhofsruhe bei den Rechtsextremen konstruieren und den Rechtsextremismus in einer „weitgehend aussichtslosen Lage“ sehen, gipfelnd in der Aussage, dass dieser in Deutschland „keine Zukunft“ (74) haben werde. Die Autoren sprechen durchaus vom „Einzug“ rassistischen und fremdenfeindlichen Denkens in die politische Kultur. Allerdings verhält es sich so, dass dieses Denken auf breiter Front über Jahrzehnte im Tiefschlaf verharrte – im Osten mehr als im Westen – und ihm durch die Umtriebe propagandistischer und gewaltbezogener Art der Rechtsextremen lediglich neues Leben eingehaucht werden musste. (75)

Was ist linksextrem?

Was den Linksextremismus betrifft, so konzedieren die Autoren, dass antikapitalistische Ressentiments – die auch bei den Rechtsextremen kultiviert werden – nicht einfach mit antidemokratischen in einen Topf geworfen werden können. Kapitalismuskritische Bestrebungen sind demnach dann gerechtfertigt, wenn sie die verfassungsmäßigen Grundprinzipien beachten und sich jeglichen Gewaltanwendungen strikt enthalten. Wie steht es aber dann zum Beispiel mit Sitzblockaden, die gewaltfrei sind, aber begrenzte Regelverstöße darstellen? Sollten hingegen die politischen Vorstellungen von Kapitalismuskritikern auf die Errichtung einer kommunistischen oder sozialistischen Gesellschaftsordnung abzielen, dann läge hier ein Linksextremismus vor. (84) Immerhin werden die Leistungen von Marx und Engels anerkannt. Sie bestanden aber nicht – wie die Autoren meinen – im Aufwerfen der „sozialen Frage“ im Industriezeitalter.

Die AfD kommt in den Genuss der Einstufung, nicht rechtsextremistisch zu sein, die Partei DIE LINKE findet weniger Gnade und wird als linksextremistisch abgestempelt, weil diese die parlamentarische Demokratie infrage stelle, ja, überhaupt „die Überwindung der freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung“ (91) anstrebe. Die Herkunft aus der SED hat bei dieser Bewertung zweifelsohne die Feder geführt. Während der Pragmatismus der Linken im Osten auf allen politischen Ebenen nichtsdestotrotz von den Autoren durchaus geschätzt wird, verharren ihrer Ansicht nach die Partei und ihre Gliederungen in den westlichen Bundesländern mehrheitlich in klassenkämpferischen Positionen und agieren den politischen Realitäten gegenüber uneinsichtig und ohne jegliches politisches Gespür für gesellschaftliche Stimmungslagen. Das Erscheinungsbild der Partei ist durchaus uneinheitlich, sodass die Autoren nicht umhinkönnen, sie als „moderate Form des Extremismus“ anzusehen.

Aber was heißt letzten Endes diese Wertung im Unbestimmten, im in-between? Die Autoren scheinen in dieser Frage unsicher zu sein und behelfen sich mit der Krücke des Wortes „moderat“, um wenigstens der Partei eine gewisse Extremismus-Lastigkeit nicht absprechen zu müssen. (93) Abschließend geben sie zu Protokoll, dass die Linke ideologisch-programmatisch „kaum eine Gefahr für die Demokratie“ (104) darstelle. Wie so oft in dem Werk, wenn es um den Vergleich von rechts und links geht, lässt sich eine gewisse Tendenz festhalten, die durch Empirie so summarisch nicht gedeckt wird: Vom Linksextremismus gehe eine stärkere Schlagkraft aus als von den Rechtsextremen. Das wird gezeigt am Umstand der vehementeren Militanz der subkulturellen (eigentlich müsste es heißten: subpolitischen) nichtorganisierten Linksextremisten, wie zum Beispiel der Autonomen (105). Doch offenbart sich hier der Linksextremismus im eigentlichen Sinne? Ist Subversivität gleich links? Sind Baumhäuser gegen einen Energiekonzern als Protestform ein Synonym für Links-Sein? Ist überhaupt Gesellschaftskritik gleich links? Im Grunde müsste der Linksextremismus als Begriff neu justiert werden.

Im Kapitel VI, das dem Thema „Rechte und linke politische Gewalt“ gewidmet ist, setzt sich diese tendenzielle „Höherwertung“ des linksextremistischen Spektrums fort, wenn die Autoren schreiben, dass „die Neigung zur Gewalt […] weder notwendig noch hinreichend noch typisch für die rechtsextreme Subkultur“ (123) sei. Doch spricht die Realität eine andere Sprache, wie wir seit Pegida wissen (Stand Herbst 2018). Demgegenüber sei die politisch motivierte linksextremistische Gewalt zwischen 2000 und 2016 angestiegen (121). Im Unterschied zur Gewalt „Face-to-Face“ (auf die Person gerichtet) zielten die Linksextremisten auf eine dosierte Gewaltanwendung ab (vor allem auf Sachen gerichtet, 122). Eine besondere Form sei bei den Linken die „Konfrontationsgewalt“, das heißt das Aufeinandertreffen mit Rechtsextremen zum Beispiel bei Demonstrationen. Bei den Linksextremisten sei eine solche Vorgehensweise stärker und auch planvoller entwickelt als auf der rechten Seite (130 ff.).

Salafismus: Radikalisierung als Gruppenereignis

Schließlich der Islamismus: vergleichsweise „neu“, international agierend, völlig andere Ideologeme, tief religiös verankert, völlig andere Organisationsformen mit ausgefeiltem Professionalisierungsgrad, unter Einsatz modernster Kommunikationskanäle, unberechenbar einsetzende, weil klandestin und kaum vorherzusehende vorbereitete Mordaktionen. Die Intentionen der Autoren sind angesichts eines zerklüfteten Bildes der diversen Islamismen auf dem Globus verständlicherweise auf die für die deutsche islamistische Szene aktivste Strömung, den Salafismus, gerichtet. Ein interessantes Unterkapitel stellt der Aspekt der Radikalisierungsetappen von angeworbenen Mitgliedern dar (151-155). Radikalisierung erscheint in erster Linie als Gruppenerlebnis. Dabei wird auf ein von Bhatt und Mitchell erarbeitetes Modell zurückgegriffen, das fünf Phasen unterscheidet: Prä-Radikalisierung, Identifikation, Indoktrinierung, Dschihad und schließlich Militanz (152). Theoretische Grundlagen und empirische Anhaltspunkte seien aber weiterhin Mangelware.

Prävention und Repression

Im abschließenden Kapitel geht es sowohl um repressive Gegengewalt durch den staatlichen Sicherheitsapparat als auch um Präventivmaßnahmen. Es wird festgehalten, dass die zuständigen Behörden diese Anstrengungen als zentraler ansehen als repressives Reaktionsverhalten der zuständigen Instanzen. Nur auf präventivem Wege könne das Systemvertrauen in die Demokratie gestärkt werden (211). Als zentrale Handlungsfelder werden genannt: Förderung der politischen Bildung; Unterstützung von Opfern extremistischer Anschläge beziehungsweise von Renegaten extremistischer Gruppierungen; Sensiblisierung von Jugendlichen für extremistische Strategien im Internet; Intensivierung von Extremismusforschung; Verstärkung der internationalen Kooperation (212 f.). Es werden zehn Thesen formuliert, von denen die beiden letzten von Interesse sind: Sie nehmen die an pedantische Erbsenzählerei grenzende Rigidität ein wenig zurück, die mit dem normativistischen Forschungsansatz fast missionarisch von der Jesse/Backes-Schule – dem das vorliegende Buch entstammt – in immer neuen Anläufen und Versuchen kultiviert worden ist. So geben die Autoren zu bedenken, dass nicht alle Ziele von Extremisten „per se“ zurückgewiesen werden sollten: konfliktreiche Politikfelder wie übermäßige Polizeigewalt, rechtsextreme (!) Gewalthandlungen, Migrations- und Integrationsfragen, Wohlfahrtsstaatlichkeit oder Naturschutz seien legitime Diskussionsgegenstände demokratischer Willensbildung. Extremisten und Demokraten verfolgten dabei „bisweilen dieselben Ziele“ (222).

Erkenntnistheoretische Gratwanderung

Wenn die Sache mit dem Extremismus nicht so bitter ernst und besorgniserregend wäre, wenn sie nicht in ihrem äußersten Punkte in Gewalttätigkeit und Mord enden kann, dann kann man es bei der normativistischen Extremismusforschung halten wie mit jenem Spruch aus dem bekannten Märchen der Gebrüder Grimm: „Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen“. Was heißt das? Es heißt, dass die drei vorgestellten Extremismen alle in ihrem Erscheinungsbild, ihren inneren Strukturen (worunter auch die strukturäquivalenten ideologischen Bekenntnisse zu rechnen sind), ihren Strategien und insbesondere in ihren gewalttätigen Praktiken gleich unmittelbar zur demokratisch ausgelegten Verfassungsstaatlichkeit bestimmt werden.

Beim Islamismus muss man noch den fanatischen religiösen Fundamentalismus in Rechnung stellen. Eigentlich wäre es im Übrigen sinnvoll, vom verfassungspolitischen Extremismus zu sprechen. Alle drei Extremismen zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass sie in der gegenwärtigen Lage in der Rapidität ihrer Ausbreitung auf globaler, nationaler und lokaler Ebene einen schwerwiegenden Faktor in den gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontexten darstellen. Sie haben einen solchen destruierenden Charakter angenommen, der alle Sphären des menschlichen Lebens und Zusammenlebens in einem Ausmaß durchdringt, der das Reagieren und Agieren der staatlichen Gewalten in einem mehr als erheblichen Maße absorbiert.

Dafür ist eine Sicherheitsarchitektur in den ‚normalen‘ politischen Prozess implementiert worden, deren Schutzfunktion Ausdruck des Gewaltmonopols des Staates ist. Es versteht sich eigentlich von selbst, dass es dieses gewissermaßen extrakonstitutionelle und extrasoziabile violente Potenzial ist, das den Extremismus als solchen bestimmt. Eine politische Bewegung, ausgestattet mit einer einigermaßen konsistenten, meist aber heterogenen Ideologie oder Ideologiefragmenten, unter Abzug jenes bis zum Exzess auf die Spitze getriebenen Faktors gleicht unter den Bedingungen, die extremismustheoretische Ansprüche zu befriedigen weiß, einer erkenntnistheoretischen Gratwanderung. Denn hiermit sind die Grenzen eines radikalen Protestverhaltens inklusive kalkulierter oder spontaner Regelverletzungen, die gesetzlichen normativen Vorgaben widerstreiten, fließend, und es mag wohl an der Interpretation liegen festzuhalten, was im Einzelfalle zutrifft. Uns ist ja aus der historischen Erfahrung geläufig, dass die Errungenschaften demokratischer Ordnungen auf den Schultern von radikalen beziehungsweise radikalisierten Prozessen ruhen, die zu ihrer Zeit als Angriff auf die staatlichen Herrschaftsansprüche von diesen Herrschaftsträgern gesehen und gnadenlos niederkartätscht wurden. Das war alles andere als ein Selbstläufer im Sinne einer whiggistischen Betrachtungsweise, sondern ein opfervoller zähflüssiger Kampf gegen die jeweils vorherrschenden Prinzipien um eine „bessere“ politische Ordnung. Für die deutsche Geschichte als bestes Beispiel dient immer noch der „Vormärz“. Für die englische Geschichte zum Beispiel die Erkämpfung des Frauenwahlrechts.

Plädoyer für mehr Beweglichkeit in der Extremismusforschung

Eine größere Beweglichkeit in der Erarbeitung einer anspruchsvolleren Extremismustheorie als Leitfaden einer wirklich empirischen Extremismusforschung, die über eine deskriptive Inventarisierung extremistischer Bewegungen mitsamt maßstabskonformer Exklusionsbewertungen und -entscheidungen, die Ausschlag geben darüber, wer ‚mehr‘, wer ‚weniger‘ extremistisch ist, hinausgeht, ist mehr als angebracht. Dass dieser Forderung nicht mit den herkömmlichen erkenntnispolitisch gefärbten Ansätzen konform gehen kann, liegt auf der Hand. Es bedarf der Einbeziehung weiterer sozialwissenschaftlicher Theorien, Methoden und Resultate, zum Beispiel aus der Sozialpsychologie, der Politischen Psychologie, der Psychologie überhaupt, der Sozialisationsforschung, der Kleingruppenforschung, der Organisationssoziologie, der Bewegungsforschung, der Biografieforschung, der politischen Kulturforschung, der Linguistik, der Religionswissenschaft, der Kriminologie. Alle diese Disziplinen und Forschungszweige erfordern überfachliche Betrachtungsweisen, die erst die Realität von Extremismen angemessen abzubilden in der Lage sein werden.

Nimmt man einmal an, dass unter bestimmten Bedingungen mit diesen Pathologien der Politik in demokratisch verfassten Systemen andere ‚offiziöse‘ politische Pathologien korrespondieren oder genauer gesagt: jenen vorgelagert sind, dann wird ein Aspekt die Bühne erreichen, der in der zumindest deutschen Extremismusforschung, soweit diese dem sogenannten verfassungspolitischen Ansatz folgt, der eher von stupender Blindheit als einer besonderen Aufmerksamkeit geprägt ist. Allenfalls in zarten Strichen nehmen die Autoren darauf Bezug, wenn sie auf Seite 213 auf die „Radikalisierungsursachen und -verläufe“ von extremistischen Bewegungen, Gruppierungen oder Parteien zu sprechen kommen. Auch geben die Autoren durchaus – wenn auch nur auflistend –, Fehlentwicklungen demokratischer Systeme Raum: Patronage, Korruption, auch „Denkverbote“ (wobei unklar ist, wie diese sich konkretisieren). Sie nennen noch den Faktor „Vertrauensverlust in die Politik“ (42). Wie anders kann der um sich greifen – und hat sich in der Vergangenheit schon kontinuierlich eingenistet und in rasantem Maße ausgedehnt –, wenn nicht infolge einer Zementierung desintegrativer Strukturen von Mandatsträgern und anderen Funktionseliten!

Man soll es halten wie der vielleicht intelligenteste Terroristenjäger, den das demokratische Deutschland je hervorgebracht hat, nämlich Horst Herold, den damaligen Chef des Bundeskriminalamts: Man muss wissen, wie der Gegner denkt und handelt und was er als Nächstes vorhat, um zu wissen, was dagegen zu tun ist. Politische Bildung zum Beispiel im herkömmlichen Sinne – Demokratiebildung, Empathieprotektion für Europa (Europäismus) –, die die Autoren so hochhalten, genügt bei Weitem nicht (212 f.). Also: Open brains vs. cabezas quadratas – gedankliche Phantasie statt eherner Schematismus.

 

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