Selbstverständnis versus Wirklichkeit. Die US-Gesellschaft und ihre politische Kultur in Kurzrezensionen
06.03.2018
In seinem Buch „Der Mythos Amerika“ beschreibt Manfred Henningsen einen Amerikanismus, der weder „die Zerstörung der indianischen Lebenswelten“ noch die Institution der Sklaverei und den Rassismus als Erblast anerkenne. Damit verstellten sich die Bürgerinnen und Bürger selbst bis heute den ehrlichen Blick auf das eigene Land und lebten mit einer „Diskrepanz zwischen symbolischem Selbstverständnis und gesellschaftlicher Wirklichkeit.“ Wie ein Blick auf die Literatur zeigt, ist diese gesellschaftliche Wirklichkeit tatsächlich geprägt von großer Ungleichheit – nicht nur, aber vor allem zu Lasten der afroamerikanischen Bevölkerung.
Joseph Stiglitz, der 2001 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten hat, gehört zu denjenigen, die seit vielen Jahren und dabei auch während der Amtszeiten von Präsident Obama engagiert gegen die soziale Ungleichheit anschreiben. Diese könnte sehr wohl mit geeigneten politischen Mitteln begegnet werden, so seine Position, was neben Gründen der Gerechtigkeit auch geboten sei, um die Zukunft des Landes zu sichern.
Soziale Rechte werden allgemein aber geringgeschätzt, wie Britta Grell und Christian Lammert in ihrer Einführung in die „Sozialpolitik in den USA“ zeigen. Arbeitslosigkeit und Armut gelten als persönliche Angelegenheit. Die im Vergleich zu anderen OECD-Staaten schwach entwickelten Sozialleistungen seien aber nicht nur in der politischen Kultur der Eigenverantwortung begründet, sondern vor allem auch in dem eher nur losen Zusammenhalt einer sozial heterogenen Gesellschaft, in der der Rassismus deutlich nachwirke. Mit der Ablehnung eines Ausbaus sozialer Leistungen werde, so zitieren Grell und Lammert verschiedene Autoren, den Afroamerikaner*innen zugleich die volle Integration verwehrt.
Alice Goffman geht in ihrer Beobachtung der sozialen Wirklichkeit in „On the Run“ noch einen Schritt weiter: Die Armen und damit vor allem die Afroamerikaner würden kriminalisiert und unter dem Deckmantel der Strafjustiz repressiv unterdrückt. Diese Mechanismen der Diskriminierung stehen in einer langen Tradition, wie Manfred Berg in „Lynchjustiz in den USA“ schildert: Anders als in den europäischen Staaten habe sich das Gewaltmonopol des Staates nur schwach ausgebildet, woraus auch in der Gegenwart ein hohes Maß an privater Gewaltanwendung resultiere.
Vor diesem Hintergrund kann die – symbolische – Bedeutung der Wahl des Afroamerikaners Barack Obama zum Präsidenten nicht hoch genug eingeschätzt werden. Aber sie reichte nicht aus, um die Wunden der geschichtlich tief verwurzelten Rassendiskriminierung zu heilen, so die Feststellung in dem Sammelband „Obama and the Paradigm Shift“. Aber Obamas Anspruch sei ohnehin ein anderer und realistischer gewesen, schreibt Sebastian Emling: Er sei keinesfalls als Messias aufgetreten, sondern eher als Therapeut, der die Nation an ihre Kräfte erinnerte.
Die folgenden Kurzrezensionen berücksichtigen die deutschsprachige Literatur (inklusive einiger Übersetzungen), die überwiegend während der zweiten Amtszeit Obamas erschienen sind und soziale Brüche wie Konflikte spiegeln. Ergänzend sind unter dem Titel „Auch das ist Amerika“ Bücher über die afroamerikanische Seite der Geschichte der USA im 20. Jahrhundert zusammengestellt.