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Carsten Koschmieder (Hrsg.): Parteien, Parteiensysteme und politische Orientierungen. Aktuelle Beiträge der Parteienforschung

26.02.2018
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Autorenprofil
PD Dr. Stephan Klecha
Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2017

Die Parteienforschung ist das zentrale Sujet Oskar Niedermayers. Sein langjähriges Wirken an der Freien Universität Berlin haben Freunde und Weggefährten anlässlich seines 65. Geburtstags mit einer Festschrift gewürdigt. Sie ist so etwas wie eine Bestandsaufnahme dieser politikwissenschaftlichen Teildisziplin, in der Niedermayer wahrlich zahlreiche Akzente gesetzt hat. Insbesondere verstand er es, die laufenden Debatten frühzeitig begrifflich zu prägen. Mit seinen Thesen von der „Europäisierung des Parteiensystems“, vom „fluiden Fünfparteiensystem“ oder vom „System mit Zweiparteiendominanz“ war es Niedermayer, der oftmals den Ton vorgab und der stets zu denen gehörte, die erste Deutungen angeboten haben.

Ausgehend von der ständigen Bereitschaft, im Lichte der Empirie dabei den eigenen Standpunkt wieder zu verwerfen und Trends aufzugreifen, ist Niedermayer somit zweifelsohne bedeutend für den wissenschaftlichen Diskurs. Wer über den Zustand des Parteiensystems forscht, findet bei Niedermayer die passenden Wendungen, an denen man sich dann abarbeiten kann, ja abarbeiten muss. In der von Carsten Koschmieder herausgegebenen Festschrift wird allerdings auch deutlich, dass die anfänglich plausiblen Ansätze nach gewisser Zeit wieder an Erklärungskraft verlieren. Sieht man die vergangenen Jahre, scheint die Halbwertzeit sogar rasant zu sinken.

Ein Teil der Beiträge in der Festschrift beschäftigt sich genau mit dem, was von Niedermayers Ansätzen längere Zeit Bestand gehabt hat. Lothar Probst etwa nähert sich sowohl in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht der Frage, wie sich die Parteien in Bezug auf die europäische Integration verhalten haben. Probst kann darin zwar einen schwachen Zusammenhang zwischen Rechts-Links-Differenz und euroskeptischen Positionen identifizieren, doch er selbst fragt sich, „ob diese Entwicklung in der Lage ist, die traditionelle Unabhängigkeit der beiden Dimensionen, die den europäischen politischen Raum strukturieren, vollends zunichte“ zu machen (148). Uwe Jun zeigt in seinem Beitrag auf, dass sich auch Niedermayers nach der Bundestagswahl 2013 entwickelte These zum neuerlichen Bedeutungsgewinn der Volksparteien schon im Lichte der Landtagswahlen 2016/17 kaum halten lässt.

Es ist sicherlich nicht Niedermayers Problem, dass sich die Dinge oftmals nicht so entwickelt haben wie prognostiziert. Vielmehr ist es wohl eher das Grundproblem einer Wissenschaft, die sich in weiten Teilen der Gegenwart verschrieben hat, die sich mit freien Entscheidungen von Menschen in demokratischen Zusammenhängen befasst und die in Phasen großer Umbrüche entsprechend wenig Zeit hat, Thesen erst nach mühsamer Prüfung in den Umlauf zu bringen. Vielmehr muss man es als zentrale Stärke von Niedermayer und auch einigen anderen Fachvertretern ansehen, dass sie sich nicht davon abhalten lassen und gerade durch neue Thesen den Forschungsprozess voranbringen.

Die Parteienforschung hat daher weniger das Manko, erste Deutungen zu präsentieren. Es mangelt ihr im Moment eher an der Fähigkeit, nachhaltig Entwicklungstrends zu beschreiben und sich mit ihren Erkenntnissen über die Fachdiskussion hinaus zu profilieren.

Ulrich Eith, Gerd Mielke, Elmar Wiesendahl und nicht zuletzt Ulrich von Alemann erinnern in ihren Beiträgen unausgesprochen an die Debatte, wonach die Politikwissenschaft insgesamt an Bedeutung verloren hat. Von unterschiedlichen Standpunkten kommend, zeigen sie auf, dass Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft eben auch einen normativen Kern besitzt. „Immer braucht es Parteien“ (39), konstatiert Elmar Wiesendahl fast lapidar an einer Stelle. Das bedeutet übersetzt aber auch, dass die sich mit ihnen beschäftigende Wissenschaft eben nicht vollständig neben das Forschungsobjekt treten kann, ja auch nicht treten darf. Als kritische Wissenschaft ist aber zugleich die latente Neigung vorhanden, die Parteienkritik von rechts wie links zu übernehmen und damit den eigenen normativen Anspruch zu konterkarieren. Wie fatal das sein kann, zeigt Ulrich von Alemann auf. All die populären Einwürfe zur Kritik der Parteien sind wahlweise wie Crouchs These von der Postdemokratie „Begriffshülsen ohne Substanz“ (64) oder bedienen in letzter Konsequenz schlicht Vorurteile. Die darin vorhandenen Gefahren, wonach die Parteienforschung damit antidemokratischen Strömungen das Wort redet, sind mit Händen zu greifen und werden durch von Alemann auch so benannt.

Die Parteienforschung steht somit vor der Herausforderung, sich letztlich auch in politische Debatten einzumischen. Doch dieses ist leichter gesagt als getan. Melanie Haas beschreibt nicht nur, wie schwierig es ist, aus der Wissenschaft ins politische Management zu wechseln. Vielmehr zeigt sie nebenbei auf, wie sehr die beiden Welten voneinander getrennt sind. Politikwissenschaftler stellen sich – zweifelsfrei wissenschaftstheoretisch gut begründet – eben am liebsten neben ihr Forschungsobjekt, vermeiden Interaktion mit dem Objekt.

In der Konsequenz besitzt die Politikwissenschaft mittlerweile immerhin ein ausdifferenziertes Set an Forschungsansätzen und Methoden, um politische Prozesse jedweder Art zu untersuchen. Auch davon zeugt die Festschrift. Mechanismen der Kandidatenauswahl oder die Gruppendynamik bei den Parteitagen neuer Parteien lassen sich von verschiedenen Seiten her durchleuchten, wie die Beiträge von Benjamin Höhne oder Carsten Koschmieder dokumentieren. Doch was das Auftauchen neuer Parteien, die Erosion der etablierten Parteien, das Aufkommen populistischer Bewegungen oder das Aufkommen nationalistischer Strömungen langfristig für das politische System bedeutet, darauf fehlen die belastbaren Antworten.

Insofern ist die Festschrift ein durchaus bemerkenswertes Werk. Sie verbindet vordergründig die teilweise sehr persönlich gehaltene Würdigung eines profilierten Wissenschaftlers mit der Darlegung des gegenwärtigen Standes der von ihm vertretenen Teildisziplin. Doch in der Gesamtschau werfen die Beiträge eher die Frage auf, wohin sich das Fach entwickeln soll. Es sind somit nicht nur Forschungsperspektiven, die beschrieben werden, sondern auch die Aussicht, dass sich die Parteienforschung eine Strategie wird zurechtlegen müssen.

 

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„Die Parteienforschung repräsentiert eine interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Disziplin im Schnittstellenbereich von Politikwissenschaft und Soziologie, die mit einem außergewöhnlich umfangreichen und breit aufgefächerten Erfahrungsgegenstand befasst ist“ (13), schreibt der prominente Parteienforscher Elmar Wiesendahl. Angesichts der Bedeutung dieses Untersuchungsschwerpunktes für die gesamte Politikwissenschaft verwundert es, dass es so lange Zeit kein umfangreiches Kompendium...weiterlesen


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