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Zwischen normativem Anspruch und politischer Realität. Die Verfahren der direkten Demokratie auf dem Prüfstand

11.12.2017
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Dr. Thomas Mirbach

© DasWortgewand / PixabayIn der Glorifizierung von Volksabstimmungen drückt sich auch ein populistischer Zeitgeist aus. © DasWortgewand / Pixabay

 

 


















Können Verfahren der direkten Demokratie – also Volksabstimmungen in den unterschiedlichen Spielarten von Initiative und Referendum – eine höhere demokratische Dignität für sich beanspruchen als die der repräsentativen Demokratie? Aktuell erhält diese Frage jenseits der politischen Theorie ein besonderes Gewicht, weil zu ihren Befürwortern nicht nur Parteien links der Mitte zählen; gerade auch rechtspopulistische Gruppen treten vehement als Verfechter einer direkten Demokratie auf. Damit liegt die Vermutung nahe, dass es bei den einschlägigen Debatten nicht allein um die Begründbarkeit strittiger institutioneller Regelungen geht. Aber für jenen Bereich des Streites, der für empirisch gestützte Argumente zugänglich ist, liegen jetzt zwei neuere, konzeptionell und dem Adressatenkreis nach unterschiedliche Publikationen vor, die die Lektüre lohnen.

Volksabstimmungen in empirischer Perspektive

Wolfgang Merkel und Claudia Ritzi prüfen mit dem von ihnen herausgegebenen Sammelband in einer gelungenen Kombination von theoretischer Systematisierung und Fallstudien mögliche Antworten auf die Frage: „Welche demokratische Legitimität können Volksabstimmungen reklamieren?“ (5) Bei der Auswahl der Fallstudien war einerseits regionale Breite ein Kriterium – die Studien beziehen sich auf Westeuropa (Schweiz, Italien), Osteuropa (Polen), USA (Kalifornien) und Lateinamerika – und andererseits sollten neben der zentralstaatlichen auch die kommunale und die europäische Entscheidungsebene berücksichtigt werden. Merkel und Ritzi entwerfen in dem den Fallstudien vorangestellten theoretischen Überblick eine sehr differenzierte Heuristik zur Diskussion der empirischen Befunde. Gleich eingangs betonen sie, dass die seitens einer eher konservativen Politikwissenschaft lange Zeit behauptete Dichotomie von repräsentativer und direkter Demokratie obsolet sei, weil sie „die Kompatibilitätsreserven [verkennt], die repräsentative Demokratien gegenüber direktdemokratischen Elementen bereithalten“ (12). Vier relevante Dimensionen einer empirisch informierten Abwägung stellen sie heraus: (1) den Auslösungsmechanismus und die Gestaltung der Quoren, (2) die soziale Selektivität in der faktischen Beteiligung an Wahlen beziehungsweise Referenden, (3) die maßgeblichen Akteure der den Abstimmungen vorausgehenden Kampagnen und (4) typische Politikergebnisse von Volksabstimmungen.

Einlösung des normativen Anspruchs – eine skeptische Bilanz

Die Zusammenführung wesentlicher Aussagen der Einzelbeiträge im Sinne einer legitimationstheoretischen Reflexion fällt sehr skeptisch aus, dabei gilt die Skepsis primär den empirischen Ausprägungen direkter Demokratie. Die Fallstudien belegen nahezu durchgehend eine „sich öffnende Schere zwischen dem überzeugenden normativen Anspruch der Theorie und der wenig(er) überzeugenden Realität“ (238). Dabei erhält dieser normative Anspruch durch die Defizite westlicher Demokratien, in denen sich zunehmende soziale Ungleichheit immer stärker in politische Ungleichheit transformiert, ein zusätzliches Gewicht (vgl. Merkel 2015). Aber gerade in dieser Hinsicht erfüllen die in den Länderstudien beschriebenen Beispiele die hohen Erwartungen nicht. Die Beteiligung an direktdemokratischen Abstimmungen liegt durchgängig unter der an Wahlen auf Bundes- oder Länderebene, dabei wird die soziale Selektivität repräsentativer Verfahren nicht korrigiert; im Gegenteil sprechen etliche Indizien für eine faktische Marginalisierung jener Gruppen, die nach Einkommens- oder Bildungsmerkmalen als sozial schwach gelten. Im Zuge der die Abstimmungen vorbereitenden Kampagnen spielen organisationsstarke Akteure innerhalb wie außerhalb der Parlamente eine wichtige Rolle. In Ländern mit starken Parteiensystemen haben nach wie vor Parteien großen Einfluss auf die Ergebnisse, bei schwachen Parteiensystemen eröffnen sich dagegen erhebliche Spielräume für wirtschaftliche Interessengruppen – Kalifornien gilt hier als Negativbeispiel einer fehlgeschlagenen direktdemokratischen Politik (155 ff.). Schließlich enthält die bei Volksentscheiden geltende Mehrheitsregel eine Reihe von demokratietheoretisch riskanten Implikationen. Auf der Ebene der Entscheide über die Verteilung von Ressourcen sind Tendenzen erkennbar, die die Privilegien von Mittel- und Oberschichten schützen – sei es über Senkung von Staatsausgaben, sei es wie bei der Hamburger Schulreform 2010 mit der Blockierung egalitärer Schulstrukturen (177 ff.). Nicht weniger problematisch sind Abstimmungsergebnisse, die – wie zum Teil in der Schweiz – qua einfacher Mehrheit die Position gesellschaftlicher Minderheiten schwächen und damit zur Plattform eines anti-europäischen, anti-islamischen und xenophobischen Kulturkampfes werden (231).

Mythologisierung der direkten Demokratie?

Einen anderen Weg der Auseinandersetzung mit direktdemokratischen Erwartungen schlägt Eike-Christian Hornig ein; mit seinem Essay, ausdrücklich an ein weiteres, nicht allein akademisch interessiertes Publikum gerichtet, möchte er der „um sich greifenden Mythologisierung der direkten Demokratie in Zeiten des Populismus“ (19) entgegentreten. Diese Mythologisierung sieht er sowohl vom Rechtspopulismus wie von bestimmten Formen des Bürgerprotestes betrieben; sie bedient sich wirkungsvoll einer schlichten Schematisierung, der zufolge direkte Demokratie die guten und repräsentative Demokratie die schlechten Seiten von Demokratie verkörpert. Hornigs Auseinandersetzung mit der einschlägigen Rhetorik bezieht sich zunächst auf die typischen Merkmale der Glorifizierung direkter Demokratie und diskutiert dann Funktionsweisen und -defizite repräsentativer beziehungsweiser direkter Demokratie. Den Abschluss bildet der Entwurf eines obligatorischen Referendums, das auf Spezifika des politischen Systems Deutschlands zugeschnitten ist (115 ff.).

Zwei Spielarten des Populismus

In der aktuellen Diskussion über Formen direkter Demokratie – das ist Hornigs zentrale These – geht es eigentlich nicht um eine abwägende Erörterung alternativer Verfahren politischer Beteiligung, sondern in erster Linie um die Artikulation eines „populistischen Zeitgeistes“ (23). Auch wenn das hier verwendete Populismuskonzept eher kursorisch bleibt und sich teils auf Inhalte, teils auf Merkmale des Stils politischen Handelns bezieht, so ist doch die empirische Beschreibung der typischen Thematisierungen vermeintlicher Stärken direkter Demokratie anregend. In dieser Hinsicht lässt sich der hier gemeinte Populismus als Kommunikationsform verstehen, die sich an zwei grundlegenden Konfliktlinien orientiert. Die erste Konfliktlinie konstruiert den typischen Gegensatz zwischen „abgehobenen Eliten“ und „Volk“. Die dabei verwendete Unterscheidung – Hornig erläutert dies an einschlägigen Verlautbarungen der AfD – operiert moralisch: Die Klasse der Berufspolitiker ist nur noch am Erhalt der eigenen Macht und den damit verbundenen Privilegien interessiert, das Volk könne sein Recht nur durch vollständige Übertragung der Schweizer Verfahren der direkten Demokratie (einschließlich einer Direktwahl des Bundespräsidenten) wiedererlangen. Dass in diesem Zusammenhang die entsprechenden institutionellen und rechtlichen Implikationen der Volksgesetzgebung nicht näher behandelt werden, ist Teil der Kommunikationsform.

Die zweite Konfliktlinie entwirft einen Gegensatz zwischen „Partikularinteressen“ und „Sachlichkeit“; weniger moralisch getönt beruft sie sich auf die Rationalität von Entscheidungen. Für Hornig kommen bei dieser Spielart eines „emanzipatorischen Populismus“ (24) andere Trägergruppen und Praktiken als bei der „plebiszitär-nationalistischen“ Variante ins Spiel. Dazu zählt er den überwiegend von Mittelschichtsangehörigen getragenen Bürgerprotest, der sich vielfach an großen Infrastrukturprojekten (wie Stuttgart 21 oder Startbahn West) entzündet. Das Partizipationsverlangen von Bürgerinitiativen als komplementäres Phänomen rechtspopulistischer Aktivitäten einzustufen, hat zweifellos auch provokativen Charakter. Gemeinsamkeiten sieht Hornig zunächst in der pauschalen Gleichsetzung von pluralistischem Wettbewerb und partikularer, von einflussreichen Lobbygruppen dominierter Interessendurchsetzung. Wenn als Antwort darauf – wie beispielsweise vom Verein „Mehr Demokratie e. V.“ – direkte Demokratie als überlegene Alternative ausgegeben wird, dann steht das zunächst in Kontrast zur vielfach belegten sozialen Selektivität dieser Form von Beteiligung. Gravierender aber sind die Einwände gegen die behauptete Versachlichung politischer Entscheidungen durch direkte Demokratie. Empirisch kann keineswegs ausgeschlossen werden, dass sich organisationsstarke Interessengruppen auch bei Volksentscheiden durchsetzen. Normativ erscheint die implizite Annahme, bei relevanten Streitfragen gäbe es letztlich eine rationale, weil interessenneutrale Entscheidung, unvereinbar mit den Prämissen pluralistischer Demokratie.

Plädoyer für eine realistische Diskussion „repräsentative vs. direkte Demokratie“

Ähnlich wie Merkel/Ritzi konstatiert Hornig, dass das bestehende System der Interessenrepräsentation – und hier in erster Linie das Parteiensystem und Formen des Parteienwettbewerbs – Erosionstendenzen aufweist. Die typischen Indikatoren sind schnell aufgezählt: Mitgliederschwund und Abnahme der Parteienidentifikation auf der einen Seite und auf der anderen Seite Akzeptanzprobleme in Gestalt sinkender Werte für Zufriedenheit, Vertrauen, Responsivität. Wenn jedoch mit Blick auf diese Probleme Verfahren der direkten Demokratie Partizipationsmöglichkeiten substanziell verbessern sollen, dann fordert Hornig zu einer realistischen Einschätzung einschlägiger empirischer Befunde auf, die die vielfach behauptete Dichotomie „Eliten vs. Volk“ widerlegen. Eine von ihm durchgeführte Auswertung von 228 Volksabstimmungen in 13 westeuropäischen Ländern zeigt, dass die Abstimmungsergebnisse weit überwiegend den vorherigen Positionierungen der jeweiligen Parlamentsparteien entsprechen. Am Beispiel der Gegebenheiten vor allem in der Schweiz, aber auch in Italien, wird erkennbar, dass die Vorlagen für die entsprechenden Abstimmungen überwiegend von politischen „Insider-Gruppen“ stammen. Schließlich weichen die Anteile von Ja- und Nein-Stimmen bei den Entscheiden nur in wenigen Ausnahmen erheblich voneinander ab, im Durchschnitt beträgt die Differenz rund 15 Prozentpunkte. Alle drei Befunde sind für Hornig ein Beleg, dass die populistische Kritik am Interessenpluralismus ins Leere läuft.

In realistischer Perspektive könnten Verfahren der direkten Demokratie Defizite des Parteiensystems nur dann korrigieren, wenn sie als institutionelle Lösungen auf das politische System der Bundesrepublik mit seinem im Vergleich zur Schweiz wesentlich stärker ausgeprägten Parteienwettbewerb zugeschnitten sind und es sich dabei vielfach um unterschiedliche Mehrheiten auf Bundes- und Länderebene handelt. Hier greift Hornig auf seinen früheren Vorschlag eines obligatorischen Referendums auf Bundesebene zurück (Hornig 2011), mit dem in genau umgrenzten Situationen ein bloß taktisches Verhalten der Parteien bei Abstimmungen im Bundesrat für reguläre Zustimmungsgesetze (beziehungsweise Verfassungsänderungen) verhindert werden soll. Ein obligatorisches Referendum würde demzufolge eingeleitet, wenn eine Gesetzesvorlage im Bundesrat mit einfacher Mehrheit (also weniger als zwei Drittel der Neinstimmen beziehungsweise Enthaltungen) abgelehnt wird. Ein derartiges Abstimmungsverhalten – das im längerfristigen Durchschnitt weniger als drei Prozent der Gesetzesvorlagen betrifft – ist für Hornig Indiz eines parteitaktischen Operierens; wären dagegen Länderinteressen substanziell betroffen, würde die Ablehnung mit qualifizierter Mehrheit erfolgen. Der Reiz dieses Modell besteht in Dreierlei: Es ist nicht an einzelne Politikfelder, sondern an bestimmte Mehrheitskonstellationen gekoppelt, durch die Politisierung von besonders strittigen Sachfragen werden Unterschiede zwischen Parteien wieder erkennbar und schließlich trägt es der zunehmenden Pluralisierung des deutschen Parteiensystems Rechnung.

Zwischenfazit

Die diskutierten empirischen Befunde begründen weder für Merkel/Ritzi noch für Hornig eine prinzipielle Ablehnung direktdemokratischer Praktiken, aber sie sensibilisieren nachdrücklich für faktische Diskrepanzen zwischen normativem Anspruch und politischen Implikationen bisheriger Umsetzungen. Geht man von den bekannten Defiziten repräsentativer Systeme als Referenzproblem aus, dann ergeben sich daraus sehr hohe Anforderungen an das institutionelle Design von Volksabstimmungen. Angesichts einer zunehmend heterogenen und sozial ungleichen Gesellschaft betrifft das in erster Linie Fragen der sachlichen Anwendbarkeit der Mehrheitsregel, der Auswahl von Themen, die sozioökonomische Unterschiede qua Abstimmung nicht lediglich reproduzieren, des Minderheitenschutzes und der Kontrolle des Einflusses wirtschaftlicher Interessengruppen in den entsprechenden Kampagnen.

 

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Bibliografische Angaben

Wolfgang Merkel / Claudia Ritzi (Hrsg.)

Die Legitimität direkter Demokratie. Wie demokratisch sind Volksabstimmungen?

Wiesbaden, Springer VS 2017

 

Eike-Christian Hornig

Mythos direkte Demokratie. Praxis und Potentiale in Zeiten des Populismus

Leverkusen, Verlag Barbara Budrich 2017


Weitere Literatur

Hornig, Eike-Christian (2011): Direkte Demokratie und Parteienwettbewerb – Überlegungen zu einem obligatorischen Referendum als Blockadelöser auf Bundesebene. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen Jg. 42, H. 3, S. 475-492

 

Merkel, Wolfgang (Hrsg.) (2015): Demokratie und Krise. Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie. Wiesbaden, Springer VS

 


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