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Joachim Behnke / Frank Decker / Florian Grotz / Robert Vehrkamp / Philipp Weinmann: Reform des Bundestags­wahlsystems. Bewertungskriterien und Reformoptionen

27.11.2017
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Daniel Hellmann
Gütersloh, Verlag Bertelsmann Stiftung 2017

Der 19. Deutsche Bundestag umfasst mit 709 Abgeordneten 111 Sitze mehr als die regulär vorgesehenen 598. Wie diese Zusammensetzung zustande kommt, kann nach den Worten des ehemaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert nur eine Handvoll Abgeordnete fehlerfrei erklären. Joachim Behnke, Frank Decker, Florian Grotz, Robert Vehrkamp und Philipp Weinmann attestieren diesem Status quo aus mehreren Gründen einen akuten Reformbedarf. Dabei sind sie keine Unbekannten in der deutschen Wahlrechtsdebatte, sondern haben sich in den vergangenen Jahren immer wieder mit ihren Vorschlägen in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht. Umso vielversprechender ist dieses Kompendium vor dem Hintergrund der Bundestagswahl 2017, die allerdings aufgrund des Erstellungszeitraumes des Werkes leider nur im Vorwort Erwähnung finden kann.

Die vergangenen Jahre, so führen Grotz und Vehrkamp aus, sind durch eine taktgebende Stellung des Bundesverfassungsgerichts gekennzeichnet. Durch das Urteil zur Verfassungswidrigkeit des negativen Stimmgewichts und der späteren Konkretisierung, wonach Überhangmandate ab einer bestimmten Grenze ebenso als verfassungsrechtlich problematisch anzusehen sind, hat das Bundesverfassungsgericht den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers stark geprägt. Will man den durch Überhangmandate verzerrten Interparteienproporz ausgleichen, müssen zusätzliche Ausgleichsmandate vergeben werden. Soll darüber hinaus der Intraparteienproporz, also das Stärkeverhältnis der einzelnen Landeslisten zueinander, ausgeglichen werden, steigt die Zahl der Ausgleichsmandate nochmals massiv. Es ergibt sich also ein Trade-off zwischen Proporz und Bundestagsgröße, dessen Überwindung durch rein minimalinvasive Eingriffe in die Grundstruktur der personalisierten Verhältniswahl kaum zu leisten ist.

Im Anschluss an diese Einführung in die Entstehung des aktuellen Bundeswahlgesetzes und die Problematisierung des Status quo entwirft Florian Grotz ein Vergleichsraster, das der Evaluation der folgenden Reformvorschläge dienen soll. Er bedient sich dabei der Zielfunktionen, die Dieter Nohlen ausgearbeitet hat und präzisiert sie für den Vergleich deutscher Wahlsystemreformoptionen. Reformoptionen sind folglich daran zu messen, wie sehr sie geeignet sind, die verfassungsrechtlichen Vorgaben zu erfüllen (Vermeidung von Überhangmandaten und Neutralisierung des negativen Stimmgewichts), Konzentration, Proportionalität, Partizipation und Transparenz zu erreichen sowie umsetzbar und parteipolitisch neutral zu sein (58). Richtigerweise wird an dieser und an vielen anderen Stellen darauf aufmerksam gemacht, dass kein Wahlsystem alle gestellten Erwartungen zu vollster Zufriedenheit erfüllen kann. Vielmehr muss es in der Wahlrechtsdebatte um die Optimierung dieser Zielfunktionen gehen. Als mögliche Stellschrauben dafür werden die Stimmverrechnung, die Stimmabgabe und die Wahlkreiseinteilung ausgemacht.

An diesen Punkten setzen die folgenden drei Beiträge an. Sie alle bewegen sich im Rahmen der personalisierten Verhältniswahl. Philipp Weinmann erläutert, wie verschiedene Methoden der Stimmverrechnung – Rechenschritte, die nötig sind, um von Stimmen zu Mandaten zu gelangen – den innerparteilichen Proporz und die Bundestagsgröße beeinflussen. Neben einigen anderen Verfahren konzentriert er sich vor allem auf zwei Modelle, die er näher erläutert. So stelle der flexible und zielgerichtete Ausgleich den innerparteilichen Proporz eher her als das sogenannte Pfeifer/Pukelsheim III-Verfahren, wohingegen das zu einem geringeren Zuwachs der Bundestagsgröße führe. Weinmann stellt seine Berechnungen bereits unter Berücksichtigung des später von Behnke angebrachten Vorschlags der Zweipersonenwahlkreise vor. Diese Forderung Behnkes ist nicht neu, aber in Anbetracht dessen, dass Überhangmandate als das Grundübel der personalisierten Verhältniswahl ausgemacht werden und sein Vorschlag die Wahrscheinlichkeit für ihr Auftreten massiv reduzieren würde, erscheint sein Vorstoß aktueller denn je. Werden je zwei Wahlkreise zusammengefasst und zwei statt wie bisher ein Kandidat gewählt, muss eine Partei deutlich mehr Stimmen im Wahlkreis erringen, damit beide Kandidaten dieser Partei ein Mandat erhalten. Problematisch ist dann die Allokation der Stimmen. Behnke plädiert hier für eine Quotenlösung. Das wiederum würde aber eine Entwertung der Personenwahl zugunsten einer Parteiwahl nach sich ziehen. Eine weitere, wohl weniger umfassende Alternative wäre es, die Zahl der Direktmandate zu reduzieren. Größere Wahlkreise bedeuten allerdings auch, dass die Abgeordneten ein größeres Gebiet abdecken müssten und somit gegebenenfalls die Bürgernähe zurückginge.

Frank Decker wiederum setzt bei der Art der Stimmvergabe an und schlägt eine Rückkehr zum Einstimmensystem, gegebenenfalls mit zusätzlicher Alternativstimme, vor. Stimmensplitting wäre dann nicht mehr wie bisher möglich und so entfiele einer von mehreren Gründen für das Entstehen von Überhangmandaten. Die Alternativstimme soll verhindern, dass ein zu großer Teil der Stimmen keine Auswirkung auf die zahlenmäßige Zusammensetzung des Bundestages hat. Schafft die mit der ersten Stimme nicht gewählte Partei den Sprung in den Bundestag nicht, besteht noch die Möglichkeit, dass die Alternativstimme zählt.

Das Werk vermag das grundlegende Dilemma der widerstreitenden Zielfunktionen nicht aufzulösen. Behnke konstatiert stattdessen: „Aber einen Tod werden die Vorlieben der Abgeordneten sterben müssen: Entweder die Abgeordneten entscheiden sich dafür, bestimmten Landeslisten Opfer abzuverlangen oder ihren Bürgern in Form von Steuern höhere Kosten für die Unterhaltung ihres Parlaments abzuverlangen, oder sie freunden sich mit dem Gedanken größerer Wahlkreise an.“ (175) Als Fazit dieser drei Beiträge bleibt die Forderung nach einer Reduzierung der Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Überhangmandaten gemeinsam mit einer Reform der Stimmverrechnung. Die Publikation dient dabei vor allem als gut dargestellte Übersicht zur bisherigen Wahlrechtsdebatte in Deutschland, ohne jedoch neue Erkenntnisse und Ideen zu entwerfen.

 

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