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Jan Eric Blumenstiel: Wie sich Wähler beim Entscheiden unterscheiden. Wählerheterogenität bei den Bundestagswahlen 1998 bis 2009

21.02.2018
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Autorenprofil
Dr. Thomas Mirbach
Baden-Baden, Nomos 2016 (Studien zur Wahl- und Einstellungsforschung 32)

Die Zeiten, in denen man bezogen auf Deutschland von einem 2,5-Parteiensystem sprechen und so die Rolle der FDP zwischen den beiden stabilen, von CDU/CSU und SPD gebildeten Lagern charakterisieren konnte, sind längst vorbei. Mit dem Verblassen der klassischen – konfessionellen und sozioökonomischen – Konfliktlinien haben sich Wählerpräferenzen mit erheblichen Auswirkungen auf das Parteiensystem verschoben. Der nahezu kontinuierlich sinkende Konzentrationsgrad der beiden Volksparteien und – wie es seit der letzten Bundestagswahl scheint – die Vertretung von sechs Parteien im Parlament erschweren die Bildung mehrheitsfähiger Regierungsbündnisse. Die steigende Volatilität auf Seiten der Wähler zeigt sich an der Zunahme von Wechselwählern und jener, die von einem Stimmensplitting Gebrauch machen oder sich erst kurzfristig für eine Partei entscheiden – und dies dann womöglich unter dem nur schwer kalkulierbaren Einfluss aktueller medialer Inszenierungen. Die Wahlforschung ist sich einig: „Die Wähler sind ‚wählerischer’ geworden.“ (Schmitt-Beck 2012: 2)

Jan Eric Blumenstiel setzt sich in seiner 2015 an der Universität Mannheim eingereichten Dissertation (Begutachtung: Hans Rattinger und Harald Schoen) mit dem Phänomen der zunehmenden Differenzierung im Wahlverhalten primär unter methodischen Gesichtspunkten auseinander. Dass Wählerheterogenität in Deutschland wie in etlichen westlichen Demokratien zu einem unübersehbaren Faktum geworden ist, stellt auch eine Herausforderung für die Wahlforschung dar. Im Kreis der politikwissenschaftlichen Teildisziplinen verfügt die empirisch-analytisch ausgerichtete Wahlforschung über ein bemerkenswertes Selbstbewusstsein, nicht zuletzt gestützt durch eine ausgeprägte wissenschaftstheoretische und methodologische Kohärenz und einen relativ hohen Grad verlässlicher Wahlprognosen. Die dem sozialpsychologischen Michigan-Modell folgenden Auswertungsverfahren – in modifizierter Form auf deutsche Verhältnisse übertragen und weiterentwickelt – können im Schnitt vier Fünftel der Wählerentscheidungen (statistisch) erklären. Diese Leistung ausdrücklich hervorhebend problematisiert Blumenstiel das dabei verwendete Kausalitätsmodell. Vereinfacht gesprochen unterstellt es, dass alle Wähler ihre Entscheidung nach derselben Logik treffen, die auf der Abwägung einer begrenzten Anzahl von Kriterien (langfristige Effekte politischer Sozialisation, kurzfristige Einstellungen gegenüber Kandidaten und Themen) beruht. Auch wenn sie bei der Entwicklung des lange Zeit als Standard geltenden Ansatzes von Campbell et al. („The American Voter“, 1960) methodisch plausibel gewesen sein mag – die Homogenitätsannahme der Entscheidungskalküle trifft empirisch weder auf der Aggregat- noch auf der Individualebene zu (20 f.). Demgegenüber verfolgt Blumenstiel mit seiner Studie die Absicht, „Wählerheterogenität nicht nur nachzuweisen, sondern die zwischen den Wählern identifizierten Unterschiede auch zu erklären“ (25). Konzeptionell orientiert er sich zwar an dem Michigan-Modell, will es aber – in Anlehnung an Miller/Shanks (1996) – zu einem vereinfachten Stufenmodell der Wahlentscheidung so weiterentwickeln, dass eine Analyse von Wählerheterogenität möglich wird. Mit diesem Fokus ist eine Engführung der Fragestellung verbunden: Die Wahlentscheidung wird aus Eigenschaften und Einstellungen der Wähler erklärt – parteispezifische Effekte bleiben ausgeblendet; im Zentrum steht das jeweilige Entscheidungskalkül und auf dieser Ebene wird Wählerheterogenität auf das Zusammenspiel von Eigenschaften (politische Versiertheit, Einstellungsstärke, Ambivalenz, Cross Pressure) und Einstellungen (Parteiidentifikation, Ideologie, Lösungskompetenz, Kandidaten, Sachfragen) zurückgeführt. Diesem Modell zufolge sind es dann Unterschiede in den Gewichten der die Wahlentscheidungen leitenden Kriterien, die sich als Heterogenität zwischen Wählergruppen, Wahlen und über die Zeit auf Personenebene beobachten lassen.

Hinsichtlich der Wählerheterogenität schlägt Blumenstiel eine doppelte Differenzierung vor. Unter theoretischen Aspekten gilt als modellkonform der Typus I, bei dem Unterschiede zwischen Wählern aus deren jeweiliger Gewichtung der Entscheidungskriterien hervorgehen; Typ II dagegen betrifft ein Entscheidungsverhalten, das anderen als dem im Stufenmodell postulierten Regeln folgt. In zeitlicher Hinsicht geht es einerseits um Unterschiede zwischen Wählern im Querschnittsvergleich (inter-individuelle Heterogenität) und andererseits um Veränderungen im längerfristigen individuellen Entscheidungsverhalten (intra-individuelle Heterogenität). Für die inter-individuelle Heterogenität stützt sich die Analyse auf Querschnittsbefragungen zu den Bundestagswahlen 1998 bis 2009, bei der intra-individuellen Heterogenität werden Daten zweier langfristiger Panelbefragungen (1998-2005, 2002-2009) herangezogen.

In einem gewissen Kontrast zu den aufwendigen statistischen Auswertungsverfahren (bi- und multivariate Verfahren, Clusteranalysen, konditional-logistische Regressionen), die die komplexen methodischen Absichten der Studie erfordern, werden die Ergebnisse der Analysen von Blumenstiel eher zurückhaltend präsentiert. Als zentraler Befund ist gewiss die clusteranalytisch entwickelte Unterscheidung von drei Wählertypen anzusehen, die jeweils etwa ein Drittel der untersuchten Fälle umfassen (189 ff.): Langfrist-Wähler (mit stabiler Parteiidentifikation und hoher Gewichtung der Lösungskompetenz der Parteien), Kurzfrist-Wähler (politisch versiert sind ihnen Kandidaten und die inhaltlichen Positionen der Parteien besonders wichtig), Politikferne (politisch geringer versiert, mit eher inkonsistenten Präferenzen). Aus dieser Typologie lassen sich allerdings nur vorsichtige Indizien einer zunehmenden Wählerheterogenität entnehmen. Anders als bei dem dritten Wählertyp kann das Wahlverhalten der ersten beiden Typen mit dem zugrunde gelegten Entscheidungsmodell gut prognostiziert werden. Auch wenn man konzediert, dass für verlässliche Aussagen auf Aggregatebene die herangezogene Zeitreihe 1998-2009 zu kurz ist, könnte die vom Autor angestellte Vermutung, „dass die im Zuge von Aggregatentwicklungen auf Parteisystemebene komplizierter werdenden Entscheidungssituationen insbesondere Wählern mit niedriger politischer Involvierung Schwierigkeiten bei der Parteienwahl bereitet“ (260), auch auf Grenzen des analytischen Ansatzes hinweisen. Wenn die Prognosefähigkeit des sozialpsychologischen Erklärungsmodells bei Phänomenen der Heterogenität vom Typ II (also Wählern mit ambivalentem „Entscheidungskalkül“) deutlich geringer ausfällt, dann sollte sich die Aufmerksamkeit einerseits doch stärker auf Kontextmerkmale (Positionen der Parteien, Wahlkampfsetting, Wahlsystem) beziehen und andererseits andere Daten als die bei den Umfragen zu den Bundestagwahlen üblichen Antworten auf geschlossene Fragen berücksichtigen. Wünschenswert wäre überdies, die empirische Wahlforschung ließe sich hier von aktuellen Ansätzen der Kultursoziologie inspirieren, die – wie beispielhaft Andreas Reckwitz (2017) – für die gegenwärtige „Gesellschaft der Singularitäten“ eine tiefgreifende Kulturalisierung des Sozialen und die Aufwertung von Affekten konstatieren – Tendenzen also, die den Kausalitätsannahmen des klassischen Wahlmodells kaum noch entsprechen.

 

Weitere Literatur:

Campbell, Angus / Converse, Philip E. / Miller, Warren E. / Stokes, Donald E. (1960): The American Voter. New York, John Wiley & Sons

Miller, Warren E. / Shanks, J. Merrill (1996): The New American Voter. Cambridge Harvard University Press

Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, Suhrkamp

Schmitt-Beck, Rüdiger (Hrsg.) (2012): Wählen in Deutschland. Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 45. Baden-Baden, Nomos Verlagsgesellschaft

 

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