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Bernd Stegemann: Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Dramaturgie

28.08.2017
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Autorenprofil
Dipl.-Journ. Wolfgang Denzler, B.A., M. Sc.
Berlin, Theater der Zeit 2017

„Das Zeitalter des Populismus“ (8) ist angebrochen. Für Bernd Stegemann, Professor für Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin, sind die Zeichen eindeutig: Trump, Brexit und Wahlsiege rechtspopulistischer Parteien in Europa. Die üblichen Lösungsvorschläge – politisches Handeln besser zu erklären, die Rechtspopulisten auszugrenzen oder sie durch Integration in bestehende Strukturen zu entzaubern – greifen seiner Ansicht nach zu kurz. Er fordert eine grundsätzlichere Auseinandersetzung mit den aktuellen Krisensymptomen: „Die einzige Lösung liegt in der Selbstkritik des Liberalismus.“ (11) Der Kern der „Tragödie“ (11), mit der er sich in seinem Essay beschäftigt, liege allerdings nicht in einer Gegnerschaft zwischen offener Gesellschaft und (Rechts-)Populisten, sondern „zwischen der globalen Macht des Kapitals und den Menschen“ (9).

Stegemann nähert sich dem Populismusbegriff unter anderem anhand von Luhmanns Systemtheorie, mit der er sich bereits in seiner Promotion beschäftigte. Die weitverbreitete Kurzdefinition, dass populistisch spricht, wer zu einfache Antworten auf komplizierte Probleme gibt, will der Autor nicht gelten lassen: Die Aussagen „wir schaffen das“ und „Grenzen dicht“ unterschieden sich zwar in ihren Konsequenzen moralisch erheblich, aber nicht in ihrer Schlichtheit. Die ebenfalls aus dem Zusammenhang der Migrationsdebatte bekannte verbale Demarkation der Anderen vom eigenen Wir sei jedoch ein typisches Merkmal des Populismus. So werde ein Gemeinschaftsgefühl erzeugt, dass vielen Bürgern in der individualisierten offenen Gesellschaft fehle. Populisten haben oft das Ziel, die „Grenzen des Sagbaren“ (21) zu erweitern, indem sie neue Narrative in die öffentliche Meinung (nach Luhmann) einführen, die ihren eigenen Standpunkten und Interessen Legitimität verleihen oder zumindest Zweifel an Gegenargumenten wecken sollen.

Stegemann sieht das Erstarken der rechten Populisten auch damit begründet, dass öffentliche Sprecher sich seit längerer Zeit darum bemühten, „ihre Meinung hinter Sachlichkeit“ zu verstecken, um zu verschleiern, dass eigene beziehungsweise überhaupt Interessen vertreten werden. Als Extrem dieser weitverbreiteten Tarnung von „Parteilichkeit“ sieht er die berühmt-berüchtigte „Behauptung von Alternativlosigkeit“ (30), mit der die aktuelle Bundesregierung weitgreifende politische Entscheidungen rechtfertigt. Rechtspopulisten böten eine Alternative zu diesem vorherrschenden Diskurs, indem sie ihre eigene Parteilichkeit bewusst und offensiv zur Schau stellten und sich den gängigen Sprachregeln widersetzten. – Dagegen ist einzuwenden, dass die populistische Partei Alternative für Deutschland (AfD) durchaus versucht, sich unideologisch und unparteiisch zu geben. So hat sich ihr Jugendverband das Motto „Verstand statt Ideologie“ gegeben und betont die Wichtigkeit von „Fakten, wissenschaftlichen Erkenntnissen oder dem gesunden Menschenverstand“ (vgl. https://www.jungealternative.com/info/ueber-uns/). Das passt zwar wenig zu dem tatsächlich wahrnehmbaren Kommunikationsverhalten der Partei, aber zumindest zu den offiziell propagierten Strategien der AfD gehört das Ablehnen der vorherrschenden „Strategie der sachlichen Überredung“ (31) oder „den Verschleierungstechniken des Liberalismus“ (32) nicht. Zumindest zum Teil kann die Anschlussfähigkeit an den besagten Mainstream-Diskurs also offensichtlich durchaus zu den strategischen Zielen einer rechtspopulistischen Partei gehören.

Aufbauend auf die kapitalismuskritische Grundstimmung seines Buches, entwickelt Stegemann an historischen Beispielen den Begriff des „liberalen Populismus“ (37). Indem die liberalen Populisten Systemkritik als irrational und alle anti-liberalen Aussagen als populistisch abwehrten, verteidigten sie „die politischen Interessen derjenigen Teile in der Gesellschaft [...], die über Eigentum verfügen“ und kollaborierten damit gleichermaßen mit den „menschenfeindlichen Interessen des Kapitals“ (38). Auch wenn er hier deutliche Worte wählt, bezeichnet der Autor einfache anti-elitäre Zuspitzungen wie „arm gegen reich“ (39) als zwar nicht falsch, aber unzureichend, um einer sich sachlich, neutral und moralisch vernünftig gerierenden „postpolitischen Macht“ (40) etwas entgegenzusetzen. Als postpolitisch bezeichnet Stegemann das liberale Sprechen der Mächtigen, weil die Kritik an prekären Lebensumständen als „Verständnisproblem behandelt [wird] und nicht als Folge von Ungleichheit“ (50). Wer auf die grundsätzliche Möglichkeit für radikale Veränderungen poche oder überhaupt für die politische Bearbeitung bestimmter sozialer Probleme plädiere, dem werde erklärt, dass übermächtige Kräfte wie die „Globalisierung, Digitalisierung“ (49) oder allgemein der Fortschritt nicht beherrschbar seien und der Neoliberalismus damit alternativlos sei.

Als alternativlos dargestellt werde auch die Entscheidung der Bundeskanzlerin im Herbst 2015, „auf Grenzkontrollen zu verzichten“ (59) und Flüchtlinge ins Land zu lassen. Kritische Fragen, ob dieser „Kontrollverlust“, der zu negativen Folgen für alle Beteiligten, inklusive der Flüchtlinge, geführt habe, nicht zu vermeiden gewesen sei, „durften im Herbst/Winter 2015 innerhalb der liberalen Öffentlichkeit nicht gestellt werden und sind bis heute tabuisiert“ (61), beklagt der Autor. Ob diese Tabus tatsächlich so wirkmächtig waren, muss angezweifelt werden: Diese Fragen wurden und werden in Talkshows, Bestsellerbüchern und von reichweitenstarken Feuilletonisten unsanktioniert gestellt und diskutiert. Die Prognose von Stegemann, dass sich der „geballte Protest“ gegen die Flüchtlingspolitik der Regierung „noch im Anfangsstadium befinde“ (63) und dass die neuen rechten Kräfte mit hoher Geschwindigkeit weiter wachsen würden, hat sich nicht bewahrheitet. Die Zustimmungswerte der Kanzlerin haben sich inzwischen erholt und der Zulauf zu rechtspopulistischen Parteien ist deutlich zurückgegangen. Das könnte aber auch daran liegen, dass einige der vom Autor erwähnten Tabus inzwischen ein Stück weit aufgeweicht und die Grenzen des Sagbaren verschoben wurden. Die Mainstream-Politik könnte damit den Rechtspopulisten einiges an Wind aus den Segeln genommen haben, indem sie ihren Diskurs an die Umstände angepasst hat.

Aus linker Sicht sei es tragisch, dass gerade die Rechten mit ihrem „Hass auf die liberale Lebensweise“ (95) erfolgreich die liberale Hegemonie erschüttern könnten, aber die ökonomischen Gesetzte des Liberalismus gleichzeitig weiterhin unangefochten blieben und nicht zur Debatte stünden. Stegemann betont deshalb, dass „nur eine materialistische und dialektische Analyse die Tragödie von Kapitalismus und Faschismus verhindern kann“ (96). Leider, und hier wird eine gewisse Frustration des Autors deutlich, sei die Linke aber damit beschäftigt, entweder Merkels Großmut in der Flüchtlingskrise zu bewundern oder „sich in die letzte Verästelung des Gendermainstreamings [zu] verflüchtigen“ (99). Die postmodernen Linken hätten so die Arbeiterklasse verraten und den rechten Populisten überlassen, kritisiert Stegemann mit Bezug auf Didier Eribon. Er fordert sie auf, das „Tuten mit der Moraltrompete“ (123) zu beenden und konkret die materiellen Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Der Kampf für die Armen und gegen die Reichen sei ein adäquates Mittel gegen Wut und Verzweiflung in der Gesellschaft. Doch aktuell sieht der Autor statt den von ihm geforderten Klassenkampf einen intensiv geführten „Kulturkampf, der um die Werte der Gesellschaft und die Form der öffentlichen Rede geführt wird“ (173), dessen Ausgang noch völlig offen sei.

 

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