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Branko Milanović: Die ungleiche Welt. Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht

23.01.2017
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Autorenprofil
Dr. Thomas Mirbach
Berlin, Suhrkamp Insel Verlag 2016

Die Studie von Branko Milanović beeindruckt durch die souveräne Beherrschung der Daten, die (auf der Basis von über 600 Erhebungen zwischen 1988 und 2011 in 120 Ländern) das Haushaltseinkommen von rund 90 Prozent der Weltbevölkerung abbilden. Darüber hinaus überrascht, dass ein Ökonom – geleitet von der Aussagekraft der verfügbaren Empirie – zur intensiven Diskussion von Fragen anregt, die eigentlich zum Themenkanon der Politikwissenschaft gehören. Er belegt eindringlich, dass Einkommensungleichheit heute nicht länger nur als nationales Phänomen diskutiert werden kann – und dies nicht allein aufgrund normativer Erwägungen, sondern vor allem aus analytischen Gründen, die im Aufbau der Studie gut zu erkennen sind. Einen Überblick über wesentliche Tendenzen der Veränderung globaler Ungleichheit in den vergangenen 25 Jahren bietet das erste Kapitel. Anschließend greift Milanović die beiden komplementären Analyseperspektiven Ungleichheit innerhalb der Länder und Ungleichheit zwischen den Ländern auf. In Kapitel 2 entwirft er einen generellen Ansatz zur Erklärung der ungleichen Einkommensentwicklung in ausgewählten Ländern, in Kapitel 3 untersucht er das längerfristige Einkommensgefälle zwischen den Ländern vor allem mit Blick auf Fragen globaler Chancenungleichheit und der Migration. Abschließend werden die Analysen im Rahmen einer Diskussion der absehbaren politischen Effekte globaler Ungleichheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts zusammengeführt.

Die Gewinner und Verlierer der Globalisierung
Gemessen am relativen Anstieg des realen Pro-Kopf-Haushaltseinkommens zeichnen sich zwischen 1988 und 2008 zwei klare Gewinner ab: Zum einen die Mittelschichten der asiatischen Länder – für Milanović die „neue globale Mittelschicht“ – und zum anderen die Gruppe der „globalen Plutokraten“, also das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung (davon stellen US-Amerikaner die Hälfte). Ebenso eindeutig wie die Gewinner lassen sich die Verlierer dieser Phase ausmachen. Es sind die unteren Mittelschichten der reichen Mitgliedsländer der OECD, also jene Gruppen, die in der neoliberalen Rhetorik von den seit den 1980er-Jahren durchgeführten Marktliberalisierungen besonders profitieren sollten. Die 2008 einsetzende Finanzkrise hat dieses Muster der globalen Einkommensverteilung noch verstärkt.

Wachsende Ungleichheit in den reichen Ländern
Neben der Benennung von Verlierern und Gewinnern der Globalisierung liegt ein zweiter wichtiger Befund in der Feststellung, dass die Einkommensungleichheit in den reichen Ländern seit Ende der 1980er-Jahre zugenommen hat. Diese Entwicklung widerspricht der in den Wirtschaftswissenschaften lange als valide geltenden Annahme Simon Kuznets, dass die Ungleichheit der Einkommensverteilung in einer Gesellschaft mit steigendem Nationaleinkommen pro Kopf zunächst zunimmt, dann wieder abnimmt. Zur Erklärung dieser von der klassischen Lehre abweichenden Empirie schlägt Milanović eine Erweiterung der Kuznets-Hypothese vor, die deren Anwendung auf (vorindustrielle) Gesellschaften mit stagnierendem und auf (industrielle) Gesellschaften mit steigendem Durchschnittseinkommen spezifiziert. In vorindustriellen Gesellschaften – so die These – variierte die Einkommensungleichheit in Abhängigkeit von exogenen Ereignissen (Kriege, Epidemien), in modernen Gesellschaften jedoch wird die wirtschaftliche Entwicklung zunehmend von endogenen Faktoren beeinflusst, teils wirtschaftlicher Art (technologischer Wandel, Substitution von Arbeit durch Kapital, Umschichtung vom industriellen in den Dienstleistungssektor, Marktöffnungen), teils politischer Art (gesellschaftliche Konflikte, Gewerkschaftsdichte, Sozial- und Bildungspolitik, Besteuerung). Angesichts der komplexen Verschränkung der relevanten Faktoren von Technologie, Offenheit und Politik wäre jeder Versuch, deren jeweilige Effekte zu isolieren, zum Scheitern verurteilt: „Die Globalisierung ist ein unverzichtbarer Begleiter der Entstehung umfassender Produktionsnetze und der Senkung der Produktionskosten, und die Politik ist insbesondere im Fall der geringeren Besteuerung [...] eine ‚endogene’ Antwort auf die [...] erhöhte Mobilität des Kapitals.“ (122).

Neue Fragen der politischen Zurechnung globaler Ungleichheit
Erst die seit Kurzem deutlich verbesserte Verfügbarkeit internationaler Haushaltsdaten erlaubt differenziertere Untersuchungen der globalen Ungleichheit – und damit stellen sich ganz neue Fragen der politischen Zurechnung. Zerlegt man die globale Ungleichheit analytisch in eine Klassenkomponente (Ungleichheit innerhalb der Länder) und eine Ortskomponente (Ungleichheit zwischen den Ländern), dann belegen die Daten eine bis in die 1970er-Jahre steigende Bedeutung der Ortskomponente; auf ihrem Höhepunkt „hing die globale Ungleichheit zu 80 Prozent davon ab, wo man geboren wurde [...] und nur zu 20 Prozent davon, welcher Gesellschaftsschicht man angehörte“ (137). Auch wenn sich diese Relation zu Beginn des 21. Jahrhunderts abschwächte, ergeben sich daraus weitreichende Fragen in der Beurteilung der globalen Chancenungleichheit und der grenzüberschreitenden Migration. Angesichts der hohen Mobilität des Kapitals problematisiert Milanović in diesem Zusammenhang die von John Rawls in „Das Recht der Völker“ (dt. 2002) eingenommene Position, derzufolge Umverteilung innerhalb eines Nationalstaates legitim, zwischen Nationalstaaten aber nicht akzeptabel ist. Ähnlich kritisch behandelt er die überwiegend diskriminierende Migrationspolitik der reichen Länder; sowohl unter effizienz- wie unter verteilungspolitischen Gesichtspunkten hält er eine Erleichterung von Zuwanderung auch um den Preis eines politischen Tabubruchs – nämlich der Einführung abgestufter Staatsbürgerschaftsrechte für Migranten – für konsistenter als die gegenwärtige Praxis.

Ausblick
Im vorsichtigen Blick nach vorn hält Milanović das weitere Wachstum der neuen globalen Mittelschichten für wahrscheinlich, auch wenn sich dieser Trend bisher auf die asiatischen Länder beschränkt. Die zunehmende Einkommensungleichheit in den reichen Ländern aber erzeugt politische Risiken; zumal angesichts der Schwächung der Mittelschichten und des Machtzuwachses der Reichen erscheint die Gefahr einer Entkoppelung von Kapitalismus und Demokratie nicht mehr bloß hypothetisch (202 ff.). Für die USA könnte das die Entstehung einer Plutokratie, für Europa die eines von populistischen Strömungen getragenen Separatismus bedeuten. Mit einiger Zuspitzung beschreibt Milanović das drohende Szenario: „Die Plutokratie versucht, die Globalisierung fortzusetzen, und opfert dafür Schlüsselelemente der Demokratie. Der Populismus bemüht sich um die Abkoppelung von der Globalisierung und erhält eine Scheindemokratie aufrecht.“ (221).

 

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Aus der Annotierten Bibliografie

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