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Wilfried Buchta: Die Strenggläubigen. Fundamentalismus und die Zukunft der islamischen Welt

06.02.2017
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Autorenprofil
Michael Rohschürmann
München, Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag 2016

Um nichts weniger als die Zukunft der islamischen Welt geht es Wilfried Buchta in seinem Buch. Beginnend mit dem Schicksalsjahr 1979 – Revolution im Iran; Besetzung der großen Moschee in Mekka durch radikale Islamisten – zeichnet der promovierte Islamwissenschaftler, der von 2005 bis 2011 als politischer Analyst für die UN-Mission im Irak arbeitete, die Entwicklung des Nahen Ostens bis heute nach und bietet auch ein Szenario für das Jahr 2026. Vor dem Hintergrund der totalen und direkten Theokratie der Prophetengemeinde (Gott leitet die Gemeinde direkt durch seinen Gesandten) stellt Buchta die Frage, ob der Islam mit Demokratie und Säkularisierung überhaupt kompatibel ist. Unter der Voraussetzung, dass Mohammed als alleiniges Vorbild gesehen wird, ist sein Blick in die Zukunft kritisch.

Erfreulicherweise leitet Buchta den sunnitisch-schiitischen Konflikt historisch her und beschreibt den Nachfolgestreit in Mohammeds Gemeinde, nachdem dieser im Jahr 632 überraschend gestorben war, ohne – so zumindest die sunnitische Auffassung – ein politisches Testament zu hinterlassen. Die islamische Gesamtgemeinde zerbrach spätestens im Jahr 656, als das erste Mal zwei muslimische Heere im Kampf aufeinandertrafen. Der historische Konflikt um die Herrschaft, der mit den Niederlagen der Partei Alis (Schia) eine religiöse Komponente bekam, ist heute vor dem Hintergrund des radikalsunnitischen IS und der iranischen Regionalstrategie wichtiger als in den letzten 1.000 Jahren.
Der schiitische Klerus, der traditionell ein gutes Verhältnis zur persischen Herrscherschicht hatte, gewann über die Jahrhunderte immer mehr Autonomie und bildete eigene Hierarchien heraus. Dies ermöglichte nach dem Sturz des Schahs eine schnelle Dominanz in der diffusen Gruppe der Revolutionäre von 1978/79, da die Geistlichkeit bereits über die Vorstellung eines neuen politischen Systems verfügte. Buchtas Theorie einer territorialen Expansionslogik des Iran sowie einer Vormachtstellung für alle Schiiten ist mit Vorsicht zu genießen: Die iranische Außenpolitik zielt, wie alle aus Revolutionen geborenen Systeme, auf den Revolutionsexport ab. Das Ziel einer territorialen Ausdehnung ist nicht unbedingt klar erkennbar, wohl aber eine Unterstützung all jener politischen Gruppierungen, die in das schiitische Kontinuum fallen – daher auch die Allianz mit Assad in Syrien. Aus der spiegelbildlichen Unterstützung Saudi-Arabiens für entsprechende sunnitische Gruppen ergibt sich eine Art kalter Krieg, der häufig in einen Stellvertreterkrieg für Teheran und Riad eskaliert. Diese Situation ist durch den Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein, der als Puffer zwischen den beiden Kontrahenten wirkte, noch verschärft worden. Der Irak ist durch die US-Intervention nachhaltig zerstört und eine Teilung des Landes in eine schiitische, eine kurdische und eine sunnitische Nation unumgänglich, so Buchtas These.

Auch für den sunnitischen Fundamentalismus zeichnet Buchta die historischen Wegepunkte nach: Wahhabismus, Muslimbruderschaft, Sayyid Qutb. Die saudischen Erdöleinnahmen wurden verwendet, um weltweite Propaganda für eine fundamentale sunnitische Sache zu machen und Tausenden Studenten Stipendien in Saudi-Arabien zu finanzieren. Hier findet die Verschmelzung der verschiedenen radikalen Konzepte zum Salafismus und schließlich zum Dschihadismus statt. Etwas auf der Strecke bleibt in dieser Darstellung die Rolle des afghanischen Dschihad – später als Terroristen bekannte Personen wie Osama bin Laden und Abu Musab az-Zarqawi studierten in Saudi-Arabien. Während bin Laden noch den fernen Feind, den Westen, angreifen wollte, richtete Zarqawi sein Hauptaugenmerk auf den konfessionellen Gegner im Inneren: die Schiiten. Der Islamische Staat im Irak (ISI) war Zarqawis geistiges Kind, auch wenn er dessen Ausrufung nicht mehr erlebte – er war kurz zuvor bei einem Drohnenangriff getötet worden. Unter Abu Bakr al-Baghdadi erfolgte die zunehmende Verselbstständigung dieser Gruppe sowie ihr Bruch mit al-Qaida. Der Arabische Frühling und die schnell erfolgende Konfessionalisierung des syrischen Bürgerkrieges schufen die Rahmenbedingungen für diese Entwicklung. Buchta beschreibt zudem das bisherige Scheitern der islamischen Reformer, wobei der Umstand, dass auch die Salafiya ihren Ursprung im Versuch einer Reform des Islam hatte, etwas zu kurz kommt.

Er endet mit einem Blick in die Zukunft von 2026. Auch wenn das Denken in Szenarien begrüßenswert und in der bisherigen Literatur zum Thema zu kurz gekommen ist, schießt Buchta hier über das Ziel hinaus, wenn er für jedes Land und jeden Konflikt die denkbar schlimmste Lageverschlechterung skizziert, um dadurch auf die Problematik und Gefahr der aktuellen Situation aufmerksam zu machen. Dies geht bisweilen zu Lasten des Realitätsbezuges. Grob zusammengefasst, zerfällt, so der Autor, der Irak in mehrere Teile (denkbar aber unwahrscheinlich), die Türkei wird zu einer absoluten Diktatur mit andauerndem Bürgerkrieg (mittlere Wahrscheinlichkeit), die Kurden bekämpfen sich untereinander (mittlere Wahrscheinlichkeit), Saudi-Arabien wird von einem Bürgerkrieg zerrissen (denkbar, aber noch nicht in zehn Jahren), Jordanien wird vom IS erobert (höchst unwahrscheinlich), der IS konsolidiert seine Macht im Irak und in Libyen (aktuell bereits widerlegt), der Libanon zerbricht (denkbar) und Europa sieht sich einer noch massiveren Flüchtlingsbewegung gegenüber und wird gleichzeitig von einem inneren Kampf zwischen rechten Gruppen und muslimischen Extremisten zerrissen (denkbar). Auch wenn viele denkbare Szenarien dabei sind und keines gänzlich unmöglich ist, ein gleichzeitiges Eintreffen aller dieser Horrorszenarien klingt eher nach der dystopischen Zukunftsvision eines Roland Emmerich als einer wissenschaftlichen Analyse. Hier wäre es wünschenswert gewesen, zwischen best case-, worst case- und most likely case-Szenarien zu unterscheiden.
Wie auch andere Titel des Autors ist dieses Buch gut und verständlich geschrieben und richtet sich explizit nicht an ein Fachpublikum. Das macht es zu einem Einstiegswerk in den aktuellen Konflikt. Buchtas Zukunftsvision sollte dabei aber mit Vorsicht gelesen werden. Hier besteht die Gefahr, dass das Buch durch seinen Pessimismus populistischen Argumenten in die Hände spielen könnte.

 

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