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Salafismus und Dschihadismus in Deutschland. Ursachen, Dynamiken, Handlungsempfehlungen

03.02.2017
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Autorenprofil
Michael Rohschürmann
Frankfurt am Main, Campus 2016

Eine Rezension von Michael Rohschürmann

Nach den Attentaten in Paris und Brüssel und zuletzt in Berlin ist das Thema Salafismus und Dschihadismus auch in Deutschland prominent im öffentlichen Diskurs. In dem Sammelband von Janusz Biene, Christopher Daase, Julian Junk und Harald Müller ist eine Reihe von Experten nicht nur aus dem akademischen Bereich vertreten, um das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Dabei verfolgen die Herausgeber das hohe Ziel „das, was wir über Salafismus und Dschihadismus in Deutschland wissen, zusammenzutragen und systematisch aufzubereiten“ (7). Sie erkennen an, dass „Qualität und Quantität der salafistischen Bewegung in Deutschland [...] nur schwer einzuschätzen“ (8) seien und trennscharfe Definitionen des Begriffes nicht existierten. Diesem Thema ist das erste Kapitel gewidmet. Darin wird ernüchternd festgestellt, dass die „Quellen- und Datenlage, auf der politische Statements und Maßnahmen sowie wissenschaftliche Studien gründen, lückenhaft ist“ (28). Dies liege nicht nur am schwer quantifizierbaren und hochkomplexen Forschungsfeld als solchem, sondern auch an divergierenden Interessen der unterschiedlichen Fachdisziplinen. Trotz vieler Publikationen zum Thema gebe es wenig theoriegeleitete Studien und viele feldkundige Einschätzungen und explorative Aufsätze – insgesamt mehr gefühltes als tatsächlich geprüftes Wissen. Entsprechend sehen die Autoren ein Forschungsdesiderat in lebensweltlichen Forschungen, Milieustudien und biografischen Narrativen.

Der Terror, der inzwischen in Deutschland angekommen ist, leistet einer diffusen Angst Vorschub. Die Autoren betonen daher bereits im Vorwort, wie wichtig es ist, das Phänomen zunächst zu verstehen, um etwaige Maßnahmen zu seiner Bekämpfung sinnvoll beschließen zu können. Erschwert wird die Analyse durch den Umstand, dass der Salafismus in Deutschland zugleich Ergebnis und Motor einer gesellschaftlichen Polarisierung ist. Entsprechend steht im zweiten Beitrag Anwerbungspraxis und Organisation die Entwicklung der Bewegung seit 2003/4 im Mittelpunkt, wobei die Autor*innen grundsätzlich differenzieren zwischen puristischem (auf die eigene Lebensführung bezogenem) und politischem Salafismus, welcher sich nochmals in der Frage der Anwendung politischer Gewalt spaltet. Dabei liege der Unterschied zwischen Salafismus und Dschihadismus im „absoluten Vorrang des militärischen Dschihad, um den herum sich alle anderen Vorstellungen gruppieren“ (21). Der salafistische Lebensstil erfasse die ganze Person und stelle einen kompletten Gegenentwurf zur modernen westlichen Gesellschaft dar. Insgesamt sei eine salafistische Geisteshaltung eher anfällig für eine dichotomische Weltsicht und Täter(Westen)/Opfer(Muslime)-Narrative. Salafismus sei nicht nur als religiöses Phänomen zu verstehen, da „für das Gros des dschihadistischen Spektrums [...] religiöse Motivation und theologische Fragen nicht unbedingt im Vordergrund [stehen]; vielmehr rechtfertigen sie politischen Aktivismus und Abenteurertum mit theologischen Versatzstücken“ (17). Erfreulich ist, dass Salafismus nicht als Phänomen sui generis behandelt, sondern im Kontext verstanden wird. Im Vergleich mit beispielsweise der evangelikalen Bewegung wird deutlich, dass ein Teil des Phänomens auch eine Form des Jugendprotestes darstellt und etwa eine puritanische Behandlung der Sexualität auch dem evangelikalen christlichen Milieu bekannt ist.

Im anschließenden Kapitel geht es um Motivationen und Karrieren salafistischer Dschihadistinnen und Dschihadisten. Die Autor*innen betonen das Zusammenspiel von makro- (ökonomische Probleme), meso- (gesellschaftliche Fragen) und mikro-sozialer (familiärer Hintergrund) Dimension, betonen aber, dass persönliche Diskriminierungs- und Frustrationserfahrungen besonders anfällig für salafistische Narrative machen. Dabei ist der Schritt in den Dschihadismus „weniger theologisch-ideologisch motiviert, sondern vielmehr aufgrund seiner Kompensationsfunktion attraktiv [...]. Emotionale Probleme [...] lassen sich durch heroische Selbststilisierung kompensieren“ (30). Der vierte Abschnitt Dschihadistische Rechtfertigungsnarrative und ihre Angriffsflächen befasst sich mit der Rechtfertigung von Gewalt, die sich aus religiösen, politischen und sozialen Teilnarrativen zusammensetzt. Wesentliche Elemente sind hierbei die bereits erwähnte dichotomische Weltsicht und die empfundene Unterdrückung der Muslime in Deutschland, die in ein geschlossenes Weltbild eingebettet werden, das wiederum einem schlechten Ist-Zustand ein perfektes Utopia entgegensetzt: Ein salafistisch-dschihadistischer Lebensentwurf kontrastiert die Verunsicherungen der Moderne durch ein in allen Lebensbereichen geregeltes System. Erfreulicherweise gehen die Autor*innen auch auf entsprechende Gegennarrative zu diesem Weltbild ein, die bei der Präventions- und De-Radikalisierungsarbeit eine größere Rolle einnehmen sollten. Im fünften Kapitel werden die transnationalen Verbindungen der Szene und die Rolle von Schlüsselfiguren, der Sprachen und des Internets untersucht. Der Übersetzung arabischer Quellen kommt erwartungsgemäß eine hohe Bedeutung zu, auch im Kontext des Konsums von Videos. Bei diesen handelt es sich nicht nur um Gewaltvideos, sondern auch um elaborierte religiöse Diskurse. Aber gerade der IS zeigt meisterhaft den Einsatz von Gewalt zur Produktion breiter medialer Öffentlichkeit, die den Machtnarrativ stärkt und die Verlockung zur heroischen Selbststilisierung fördert. Dazu stellen die Autoren richtig fest, dass „sich die Medien dieses Wirkmechanismus [oft] nicht ausreichend bewusst zu sein“ (32) scheinen.

Von besonderer Bedeutung ist das Kapitel Prävention und Deradikalisierung. Einmal mehr werden darin die negativen Folgen eines stigmatisierenden Diskurses („die Muslime“) für die Identifikation von Muslimen mit der deutschen Gesellschaft betont. Als analytisch sinnvoll erweist sich die vorgenommene Unterscheidung zwischen Prävention und Distanzierungsarbeit (gerichtet auf Personen, die bereits in der salafistischen Szene aktiv sind) einerseits sowie De-Radikalisierung andererseits. Im letzten Kapitel geht es um die Verbesserung von Wissenstransfer und Evaluation. Es bestehe kein Mangel an Wissen per se, die politische Nachfrage sei allerdings nicht unbedingt mit der akademischen Wissensproduktion kompatibel, lautet der Befund. Bloße Empfehlungen reichten indes nicht aus, sondern müssten für die entsprechenden Akteure auch zugängig sein.

Durch nahezu alle Artikel des Sammelbandes zieht sich die Forderung nach einer Mischung aus reaktiven und präventiven Maßnahmen. Die Herausgeber und Autor*innen haben ihr hoch gestecktes Ziel erreicht und ein wichtiges Grundlagenwerk für eine weitere wissenschaftliche Betrachtung, aber auch praktische Empfehlungen zu diesem Phänomen vorgelegt. Mit dem Band werden die Erkenntnisse des vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung koordinierten Forschungsverbundes „Salafismus in Deutschland. Forschungsstand und Wissenstransfer“ vorgestellt.

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