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Zak Dychtwald: Young China. Wie eine neue chinesische Generation ihr Land und die ganze Welt verändert

01.10.2020
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Autorenprofil
Prof. Dr. Rainer Lisowski
Berlin, Econ 2020

Im Jahr 1957 zog die Sowjetunion kurz an den USA vorbei, denn in diesem Jahr schoss Moskau den Sputnik-Satelliten in die Erdumlaufbahn. Dessen Funksignale sind nicht nur längst verhallt – sie liegen fast ein ganzes Menschenleben zurück –, auch die Sowjetunion gibt es nicht mehr. In diesem so fern wirkenden Jahr wurde Zhao Leji geboren. Er ist das jüngste Mitglied von Chinas Machtzentrum, dem Ständigen Ausschuss des Politbüros der kommunistischen Partei. Alle anderen Mitglieder sind noch etwas älter. So alt diese Führungsspitze der Volksrepublik auf manche wirken mag, so jung ist doch das Land. Von den etwa 1,3 Milliarden Menschen sind 400 Millionen in oder nach dem Jahr 1990 geboren. Chinas Millennials sind zusammen genommen fünfmal größer als die Einwohner der Bundesrepublik. Dieses Land, nein diesen Kontinent zu erkunden, hat sich Zak Dychtwald zur Aufgabe gemacht.

Die inhaltliche Gliederung des Buches wiederzugeben, ist wenig erhellend. Der Aufbau folgt keinem roten Faden. Dychtwald erzählt mit lebendigen Überschriften („Bella und die Bücher“, Kapitel 2) stark personalisierte Episoden aus seinen Erlebnissen während eines mehrjährigen Aufenthalts in China. Dabei geht es um den Leistungsdruck, der auf der jungen Generation lastet, um die gesellschaftlichen Erwartungen an diese. Es geht um ihren Konsum, politische Einstellungen, Überzeugungen und Hoffnungen, Studium und Berufspläne sowie den Umgang mit Sexualität. Kurzum: Der Autor versucht in Mosaiken eine griffige Erzählung über Chinas junge Generation. Zahlen werden zwar oft geliefert und im Anhang belegt; inhaltsreiche statistische Tabellen oder Grafiken fehlen aber. Dafür kommen die Gesprächspartner des Autors plastisch und nachvollziehbar zu Wort.

Welche zentralen Einsichten lassen sich aus Dychtwalds Buch destillieren?

  1. China wird innovativer. Wer das Land bisher als „Copy Cat“ wahrnimmt, wird es mit einer Generation zu tun bekommen, die aus intrinsischer Motivation Neues schaffen will, die innovativ sein möchte und stark unternehmerisch denkt.

  2. China wird auch in Zukunft nicht notwendigerweise demokratischer. Seine Jugend sieht all die Probleme mit der politischen Führung in Peking und ärgert sich vor allem über die Zensur. Aber anders als wir hat sie auch die Unzulänglichkeiten des westlichen Politikmodells klar im Blick. Millionen junger Chinesen haben sie im Auslandsstudium selbst kennengelernt. Und sehr viele hat unsere Art zu leben nicht überzeugt. Höhnische Kommentare zu den von uns gern geforderten Menschenrechten beim Anblick von Obdachlosen hierzulande zeugen nach Einschätzung von Dychtwald davon (24). Chinas Jugend sei im Wesentlichen weder ungehalten noch verärgert über die politische Situation, sondern vor allem gleichgültig. „Aber die Freiheit, nach der sich die jungen Chinesen sehnen, ist keine Befreiung von einem unterdrückerischen Regime, das ihre Rechte einschränkt, sondern die Befreiung von kulturellen Traditionen und Erwartungen, von denen sie sich überfordert fühlen“ (305).

  3. China wird nicht automatisch postmaterieller. Immer wieder kommt Dychtwald auf die – vornehmlich webbasierte – starke Konsumorientierung der jungen Generation zu sprechen, etwa auf den „Singles Day“, der den US-amerikanischen „Black Friday“ als größtes Verkaufsevent der Welt spielend abgelöst hat (177 ff.). Greta Thunberg hätte es zurzeit schwer in China. Auch die Jungen sind noch mit dem Aufstieg und der Absicherung ihrer Lebenspositionen beschäftigt. Für globalen Klimaschutz („Luxusfragen“, 21) bleibt keine Zeit. Eher fließt kleinräumiger Umweltschutz, wie etwa die Luftreinhaltung in den Städten, in die Gedankenwelt dieser Generation ein.

  4. Chinas Jugend ist kompetitiver und trotz aller Klagen immer noch familienorientierter als unsere. Deutlich wird vor allem, wie stark der Leistungsdruck auf den hunderten Millionen jungen Menschen lastet. Unternehmen wie Institutionen können dagegen nur in begrenztem Umfang attraktive Arbeits- und Studienplätze bieten. Entsprechend hoch ist der Selektionsdruck, der vor allem durch den Gaokao, die allgemeinen Aufnahmeprüfungen für die Universitäten, deutlich wird. Für manche westlichen Leser*innen mögen die Geschichten von Dychtwald fast schon skurril anmuten, beispielsweise wie bereits Kleinkinder „gedrillt“ werden, nur um ihre Startchancen zu verbessern.

    Die Folge: „Wir bekommen mehr Aufmerksamkeit, mehr Essen, mehr Geld. Im Gegenzug verzichten wir auf unsere Jugend“ (83). Zudem ist die soziale Kontrolle durch erweiterte Großfamilien nach wie vor hoch. Das Phänomen der „Elternesser“ (101 ff.) dürfte den wenigsten hierzulande bekannt sein. Anders als „Hotel Mama“-Klienten hierzulande zeichnen sich die chinesischen Pendants dadurch aus, dass sie in der Regel gutbezahlte Jobs haben – aufgrund der völlig aus dem Ruder laufenden Immobilienpreise jedoch auf die fortgesetzte finanzielle Unterstützung der Eltern setzen müssen.

  5. Chinas Jugend wandelt sich. Dies wird bei Einstellungen zur Sexualität besonders deutlich. Auch wenn weiterhin akzeptiert wird, den Eltern einen Ehepartner zu präsentieren, lockern sich doch die Sexualmoral und auch die Einstellungen zur Homosexualität. Diese Revolution ist aber – typisch China – „still“ (128) und ohne das auffällige ‚Begleitgeschrei‘, das es im Westen dazu gab und gibt.

Sehr gut wird durch Dychtwalds Bericht die Geschwindigkeit des gesellschaftlichen Wandels in China deutlich – und wie die Generation, die diesen Wandel wie kaum eine andere erlebte, darauf in Einstellungen und Verhalten reagiert. Während die Großeltern nicht selten noch Analphabeten waren, besucht die Enkelgeneration bereits Universitäten, und zwar nicht selten im westlichen Ausland.

Zudem verfügt Dychtwald über eine Art von feinsäuerlichem Humor. Belustigend ist etwa sein Hinweis auf eine Diskussion mit einer chinesischen Freundin über das letzte von ihr gelesene Buch. Es war Orwells „1984“. Auf seine Frage, wie sie um alles in der Welt an das Buch heran gekommen sei, antwortete sie schlicht, es sei schon auf dem Kindle geladen gewesen, welches sie gerade im Internet bei Taobao gekauft habe (309).

Dychtwald ist kein (akademisch gebundener) Wissenschaftler, sondern Publizist und Berater. Stöbert man im Internet nach ihm, wird man schnell fündig. Er lebt davon, seine Einsichten in die Denkweisen dieser Generation an Kunden zu vermitteln. Längst hat er eine Boutique-Beratung („Young China Group“) zu diesem Thema aufgebaut. Der streng methodisch-wissenschaftlich denkende Mensch muss Abstriche bei seinem Buch machen, zumal unklar bleibt, aus welchen (und wie vielen) Quellen sich sein Wissen speist. Unbedingt lesenswert bleibt es dennoch für jeden Menschen, der ein Interesse an China hat.

 

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