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Roland Jahn, unter Mitarbeit von Dagmar Hovestädt

Wir Angepassten. Überleben in der DDR

München/Zürich: Piper 2014; 190 S.; 2. Aufl.; 19,99 €; ISBN 978-3-492-05631-1
„Wir Angepassten“ – Mit dieser Zuschreibung will Roland Jahn eine Brücke bauen zwischen den Menschen, die das SED‑System mittrugen oder zumindest versuchten, nicht aufzufallen, und denen, die sich die offene Dissidenz trauten. Entlang seiner eigenen Biografie erzählt der derzeitige Bundesbeauftragte für die Stasi‑Unterlagen deshalb, wie es war: Auf eine Formel gebracht, verbrachten demnach nicht wenige ein Leben in Anpassung und Widerstand – „und“, nicht „oder“, versuchte doch auch Jahn selbst, wie er schreibt, eine ganze Weile, mit dem System klarzukommen, leistete seinen Wehrdienst und versuchte, auch den Eltern zuliebe, sich in die Universität einzupassen. Vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen und dem Verbundenheitsgefühl zu den Eltern, die nach den Erfahrungen mit einer bereits gescheiterten Diktatur angepasst und konfliktscheu waren, kann Jahn das Verhalten der Menschen erklären, die das schlechte Theater, das die DDR darstellte, mitspielten – aus Angst vor beruflichen Konsequenzen und aus Rücksicht auf die Familie, die bei eigenem politischem Fehlverhalten ebenfalls mit Nachteilen zu rechnen hatte. „Was war der Preis der Anpassung? […] Ein begrenztes Sichtfeld, ein viel zu klein gelebtes Leben.“ (167) Herauszulesen ist auch, welchen persönlichen Mut es bedurfte, sich nicht nur seine eigenen Gedanken zu machen, sondern diese auch noch öffentlich mitzuteilen. Als Jahn diesen Schritt wage, verlor er seinen Studienplatz und verlegte sich auf kreative Protestformen – zu einer 1. Mai‑Demonstration gesellte er sich mit einem leeren Plakat als Platzhalter für die fehlende Meinungsfreiheit und als die Solidarnosc begann, die politischen Verhältnisse in Polen neu zu ordnen, klemmte er sich eine Fahne des Bruderlandes an das Fahrrad. Er wurde sofort dafür kriminalisiert und auch inhaftiert. Die DDR mag zwar schlechtes Theater gewesen sein, bei dem viele Akteure und Zuschauer ihre Teilnahme heuchelten – Dissidenz aber war kein Spiel. Die Erbarmungslosigkeit des Systems zeigte sich für Jahn vor allem auch, als ein Freund 1981 unter ungeklärten Umständen in MfS‑Haft zu Tode kam. „Der Tod von Matthias Domaschk war für mich Einschüchterung und Ansporn zugleich. Meine Reaktion hieß: keine faulen Kompromisse mehr.“ (151) Sein Engagement musste er 1983 mit der zwangsweisen Ausbürgerung bezahlen. „Das Erzählen über die DDR“ in der Gegenwart hält Jahn aus zweierlei Gründen für geboten: als „große Chance für die nächsten Generationen […]. Sie können ihre Sinne schärfen, indem sie begreifen, was es heißt, wenn Rechte eingeschränkt sind“ (169) – und als einen Prozess, mit dem die Zerrissenheiten, die die Diktatur sogar in Familien angerichtet hat, geheilt werden können.
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Rubrizierung: 2.3142.35 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Roland Jahn, unter Mitarbeit von Dagmar Hovestädt: Wir Angepassten. München/Zürich: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38066-wir-angepassten_46052, veröffentlicht am 12.02.2015. Buch-Nr.: 46052 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken