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Andreas Rödder: Wer hat Angst vor Deutschland? Geschichte eines europäischen Problems

10.12.2019
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Autorenprofil
Michael Rohschürmann
Frankfurt a. M., S. Fischer 2019

Der Mainzer Historiker Andreas Rödder führt seine Leser*innen auf eine 276 Seiten lange Tour de Force durch die deutsche und europäische Geistesgeschichte der Selbst- und Fremdwahrnehmung Deutschlands. Das Buch erscheint zu einer Zeit, in der Europa zwischen unterschiedlichen Extremen zu zerreißen scheint: Europäisierung und Globalisierung, aber auch neu entstehender Populismus und Nationalismus. Die deutsche Frage, diesmal die nach der Rolle, die Deutschland in Europa einnehmen soll, wird wieder neu gestellt und diskutiert.

Der Autor möchte vor diesem Hintergrund aber mehr als eine historische Verortung Deutschlands in den vergangenen 150 Jahren vornehmen, ihm geht es darum aufzuzeigen, welche Einstellungen und gegenseitigen Missverständnisse häufige Grundlage der Konflikte Deutschlands mit seinen Nachbarn waren und sind. „Das Buch hätte eines seiner Ziele erreicht, wenn deutsche Leser verstehen, warum sie nicht verstehen, wie Franzosen und Griechen die Deutschen sehen, und wenn polnische und britische Leser verstehen, warum sie die Deutschen nicht verstehen“ (13).

Aus deutscher Sicht ist das Land gefangen zwischen widerstreitenden Erwartungen. Immer häufiger wird verlangt, dass das wiedervereinte und wirtschaftlich potente Deutschland auch eine politische Führungsrolle einnimmt. Doch sobald es das tut, wird wieder der Vorwurf deutscher Dominanz laut. Um dies zu erklären, beschreibt Rödder die Entwicklung deutscher Stärke seit der Reichseinigung, einer (wirtschaftlichen) Stärke, die sich durch die verschiedenen Katastrophen des 20. Jahrhunderts bis heute erhalten hat. Zudem beschreibt er die ambivalente Wahrnehmung Deutschlands seitens seiner Nachbarn: deren Deutschlandbild schwankt zwischen vergeistigten Gelehrten und Musikgenies bis hin zu den sprichwörtlichen „furor teutonicus“ (246).

1871 wurde aus der traditionellen europäischen Pufferzone gleichzeitig erstmals eine deutsche Nation, aber auch sofort eine Großmacht, die zu groß war, sich einfach in den Kanon der anderen europäischen Mächte einzufügen. Dabei entsprang die deutsche Selbstwahrnehmung der Mentalität eines Außenseiters, der nun plötzlich Teil der Tafel geworden ist. Rödder verdeutlicht dies am Beispiel der bekannten Reichstagsrede des Reichskanzlers Bernhard Bülow „Wir [das Deutsche Reich] wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne“. Wo Bülow und die Mehrheit der Deutschen wohl in erster Linie den Fokus auf dem „auch“ verstanden, hörten die Nachbarn die Forderung nach dem „Platz an der Sonne“ und fürchteten um ihren eigenen Sonnenplatz, so Rödder.

Er macht deutlich, dass Eigen- und Fremdwahrnehmungen der europäischen Staaten niemals statisch waren und einem interaktiven Aushandlungsprozess unterworfen sind. Die Idee der Nation ist für ihn mehr als ein politisches Konstrukt, sondern die Idee einer Gemeinschaft, die von Symbolen, Mythen aber eben auch von ihren Feinden und Ängsten geschaffen wird. Durch den konsequenten Fokus auf die Entwicklung dieser wechselseitigen Wahrnehmungen gelingt es Rödder, auch Themen anzusprechen, die in Deutschland als heikel betrachtet werden. Hier wird deutlich, dass die Angst der etablierten Nationen vor dem Newcomer auch zu Doppelstandards führte: sei es die Kritik der anderen Kolonialreiche am deutschen Kolonialismus, die Angst der Briten vor der deutschen Flottenpolitik oder die Verhinderung des Österreichischen Anschlusses an das Deutsche Reich nach dem Ersten Weltkrieg trotz des Wunsches seiner Bewohner.

Rödder kommentiert die unterschiedlichen Wahrnehmungen ausgewogen als Korrektiv des deutschen Eigenbildes und es gelingt ihm sehr gut, Kontinuitätslinien aus den vergangenen 150 Jahren bis in die Gegenwart zu ziehen: „Das deutsche Selbstverständnis als Kulturnation aber wirkte ebenso weiter wie eine Tendenz zur moralischen-kulturellen Selbstüberhöhung. Kontinuitäten zeigen sich auch in der Neigung, den Blick auf die eigene Perspektive zu reduzieren, statt die Sicht der anderen einzubeziehen [...]. Stets neigten und neigen die Deutschen dazu, sich selbst als schwächer, harmloser und friedlicher anzusehen, als die anderen dies tun.“ (246) Es ist eines der großen Verdienste des Autors, seinen Mitbürger*innen den Spiegel vorzuhalten.

Rödder ermöglicht mit seinem auf Wahrnehmungen bezogenen Ansatz einen neuen und frischen Blickwinkel auf die europäische Politik. Er selbst ist dabei kein unbeschränkter Befürworter der europäischen Integration und plädiert für ein „Europa à la carte“ nicht für eine „ever closer union“, zu der sich die Europäer in ihren Verträgen bekannt haben (257 f.). Gerade Deutschland müsse aber in Europa investieren – nicht nur monetär, sondern gerade auch mit Verständnis für die Ängste und Befürchtungen der kleineren Mitglieder der Union. Seine Empfehlung für einen neuen Dreibund (England, Frankreich, Deutschland), den er „Elysée à trois“ (259) nennt und den er als Motor Europas versteht, spiegelt – einem Historiker sehr angemessen – den alten deutschen Wunsch, der sich bisher indes nie erfüllen ließ.

Dass Deutschland in Europa investieren muss, ist zudem nicht neu, sondern das Mantra aller deutschen Regierungen von Konrad Adenauer bis hin zu Angela Merkel. Diese Politik ist eine der Lehren, die Deutschland bereits aus seiner Geschichte gezogen hat. Rödders Empfehlungen sind an dieser Stelle also wenig originell, wenngleich auch immer noch richtig. Den Finger aber in die Wunde der deutschen Überheblichkeit – auch und gerade in moralischen Fragen – gegenüber den kleineren EU-Mitgliedern zu legen, ist definitiv ein weiteres Verdienst des Autors.

 

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