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„Wenn Soldaten marschieren, ist es zu spät“. Abschreckung 2.0 im Zeitalter hybrider Konflikte

28.06.2018
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Lukas Bittner, M.A.

Sirius 2018 2 hybrid geralt pixabay streak 3500983 340Moderne Sicherheitspolitik muss hybride Bedrohungen erkennen und abwehren können, bevor mit diesen Fakten geschaffen werden. Grafik: geralt (Pixabay).

 

Seit der Annexion der Halbinsel Krim durch die Russische Föderation im Jahr 2014 sind hybride Bedrohungen in der sicherheitspolitischen Diskussion allgegenwärtig. Vor allem die während der Krim-Besetzung medial präsenten „kleinen grünen Männchen“, also russische Spezialeinsatzkräfte an strategisch wichtigen Punkten, wurden zu einem Sinnbild dieser neuen Bedrohungen. Insbesondere baltische und osteuropäische Staaten befinden sich seit 2014 daher in einem permanenten Alarmzustand.


Nicht nur die Staaten selbst haben reagiert. In der Zwischenzeit wurde auf EU-Ebene eine „Hybrid Fusion Cell“1 eingerichtet und seit Mitte 2017 gibt es in Finnland ein „European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats“2. Auch die NATO hat auf die anhaltenden Spannungen mit Russland reagiert. Beim NATO-Gipfel 2016 in Warschau wurde der Beschluss zur „enhanced Forward Presence“3 (eFP) gefasst. Damit sind dauerhaft Truppen der Allianz im Baltikum beziehungsweise Osteuropa stationiert (auch wenn die Truppenteile selbst rotieren).4 Gerade russische Großübungen, wie die ZAPAD 20175 im September, führen in einigen NATO-Staaten zu einer zunehmenden Nervosität. In vertraulichen Gesprächen mit militärischen Vertretern osteuropäischer NATO-Staaten wird immer wieder die Sorge geäußert, dass es unter Umständen zu einem Einmarsch Russlands in andere Staaten kommen könne und deswegen heute operative Pläne notwendig seien, wie man die NATO-Truppen im Notfall verstärken könne. Darüber hinaus wird eine Verstärkung der bereits vorhandenen eFP-Einheiten gefordert.6 Aber sind militärische Muskelspiele die richtige Antwort auf hybride Bedrohungen?


Die diesem Artikel zugrundeliegende Hypothese behauptet das Gegenteil. Hybriden Bedrohungen kann und muss man vor allem nicht-militärisch begegnen, denn diese agieren weit unter der Grenze einer militärischen Konfrontation und schaffen Fakten, bevor das Militär im konventionellen Sinn zum Einsatz kommt. Der russische Generalstabschef Valery Gerasimov sieht das Verhältnis von militärischen und nicht-militärischen Mitteln in der Konfliktaustragung bei 1:4.7 Achtzig Prozent der Aktivitäten finden also im nicht-militärischen Bereich statt. Militärische Maßnahmen (Übungen etc.) stellen eher eine Bedrohungskulisse beziehungsweise ein Eskalationspotenzial dar. Die – hybride – Interessensdurchsetzung selbst erfolgt nicht-militärisch. Folglich kann man argumentieren: Wenn Soldaten marschieren, ist es zu spät, denn zuvor wurden entscheidende politische Fakten geschaffen, die eine militärische Antwort sehr unwahrscheinlich werden lassen, wie die Besetzung der Krim gezeigt hat.


Hybride Bedrohungen als Ausdruck des Internationalen Systems


Im vergangenen Jahrzehnt haben sich die Grundlagen des internationalen Systems insofern verändert, da heute die (offene) Durchsetzung nationaler Interessen wieder ins Zentrum nationaler Außenpolitiken gerückt ist8. Offensichtlichstes Beispiel ist Russland, das seit 2014 in aller Deutlichkeit hat erkennen lassen, dass es an der europäischen Friedensordnung kein Interesse mehr hat und eine Politik der Revision von Grenzen und der Destabilisierung westlicher Gesellschaften verfolgt. Aber auch US-Präsident Donald Trumps „America-First“-Politik ist ein Indikator für die zunehmende Bedeutung einer klassischen Politik der Verfolgung nationaler Interessen. Für Trump muss sich das internationale Engagement für die Vereinigten Staaten auch finanziell rechnen.9 Die idealistischen internationalen Bemühungen der Vereinten Nationen zur Durchsetzung von Menschenrechten, die in der „Responsibility to Protect“10 ihren Höhepunkt fanden, sind heute in den Hintergrund gerückt. Bei der Durchsetzung nationaler Interessen geht es letztlich um die Einflussnahme von Staaten gegenüber anderen Staaten respektive deren Gesellschaften.

Auch wenn das internationale System, insbesondere die Ordnungsmodelle der Vereinten Nationen, heute geschwächt erscheinen, gewisse fundamentale Rahmenbedingungen bleiben bestehen.11 Das ius ad bellum, also der Krieg als legitimes politisches Instrument von Staaten, ist bis heute in den internationalen Beziehungen und im Völkerrecht grundsätzlich geächtet.12 Konflikte werden unterhalb einer völkerrechtlichen Schwelle ausgetragen und die offene gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Staaten weitestgehend vermieden, auch wenn die Drohkulisse einer militärischen Eskalation immer wieder ein entscheidendes Element darstellt. Auseinandersetzungen finden eher in einer Grauzone zwischen den beiden Zuständen Krieg und Frieden statt.13 Die Begrifflichkeit der hybriden Bedrohungen versucht diese Form der Auseinandersetzungen zu beschreiben und mögliche Antworten darauf zu entwickeln.

In einer gemeinsamen Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat hat die Europäische Kommission „hybride Bedrohungen“ wie folgt umschrieben: „Auch wenn ‚hybride Bedrohungen‘ unterschiedlich definiert werden und dabei immer wieder neuen Entwicklungen Rechnung getragen werden muss, geht es grundsätzlich darum, die Mischung von Zwang und Unterwanderung und von konventionellen und unkonventionellen Methoden (diplomatischer, militärischer, wirtschaftlicher oder technologischer Natur) zu erfassen, auf die von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren in koordinierter Weise zur Erreichung bestimmter Ziele zurückgegriffen werden kann, ohne dass jedoch die Schwelle eines offiziell erklärten Kriegs erreicht wird. Normalerweise liegt der Schwerpunkt auf der Ausnutzung von Verwundbarkeiten der Zielgemeinschaft und auf Verschleierungsstrategien zur Behinderung von Entscheidungsprozessen. Großangelegte Desinformationskampagnen und die Nutzung der sozialen Medien zur Beherrschung des politischen Diskurses oder zur Radikalisierung, Rekrutierung und Steuerung von Stellvertreterakteuren (‚proxy actors‘) können als Vehikel für hybride Bedrohungen dienen.“14

Die Definition dessen, was man sich unter hybriden Bedrohungen vorstellen soll, ist alleine schon aus dem Grunde schwierig, als der Begriff eher einen konfliktiven Umgang zweier Staaten beschreibt als eine spezifische Form einer staatlichen Interessendurchsetzung beziehungsweise eines aggressiven Verhaltens.15 Es gibt also nicht „DIE“ hybride Bedrohung, sondern hybride Strategien ergeben sich immer aus spezifischen Situationen heraus. Einen nützlichen Ansatz zur Analyse von Hybridität bietet die Beschreibung, die im Rahmen des Projekts „Countering Hybrid Warfare: Understanding Hybrid Warfare“ der NATO Multinational Capability Development Campaign (MCDC) entwickelt wurde. Dort versteht man unter „Hybrid Warfare”: „the synchronized use of multiple instruments of power tailored to specific vulnerabilities across the full spectrum of societal functions to achieve synergistic effects.“16

Zum besseren Verständnis wurde von der NATO ein generisches Modell entwickelt, das die unterschiedlichen Felder darstellt, auf denen hybride Bedrohungen beziehungsweise Angriffe und Effekte erfolgen können. Diese umfassen Militär, Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Infrastruktur und Information (auf Englisch MPECII, abgekürzt für „military, political, economic, civil, infrastructure, information“)17. Angriffe können in jedem dieser Felder stattfinden, wobei erfolgreiche (synchronisierte) Angriffe (das MCDC-Projekt spricht hier von „synchronized attack packages“ – SAP) zu Effekten führen, die einen Einfluss auf das Funktionieren von staatlichen Funktionen, gesellschaftlicher Kohäsion, Wirtschaftstreiben, Handel etc. haben. Hierbei wird zwischen Effekten erster bis dritter Ordnung unterschieden, wobei diese Abstufung keine Gewichtung hinsichtlich ihrer Schwere darstellt. Vielmehr wird nach dem auslösenden Grund unterschieden. Ein Effekt erster Ordnung kann zu einem weiteren Effekt führen, ohne dass es einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen dem Effekt zweiter Ordnung und der eigentlichen Attacke gibt.
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1http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-16-1250_de.htm.
2https://www.hybridcoe.fi/.
3https://www.nato.int/cps/en/natohq/topics_136388.htm?selectedLocale=en.
4https://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/pdf_2017_06/20170629_170629-eFP-map-en.pdf.
5Die Presse: Russische Groß-Kriegsspiele an der Nato-Ostflanke; 14. 09. 2017.
6Vgl. Shlapak/Johnson 2017.
7Vgl. dazu die Grafik in Gerasimov 2013, 28.
8Vgl. BMLVS 2017a, 14 ff.
9Vgl. Rudolf 2017.
10Vgl. dazu: http://www.unric.org/en/responsibility-to-protect?layout=default.
11Vgl. Hippler 2013, 43 ff.
12Vgl. Etzersdorfer 2007, 62 ff.
13Vgl. Barno/Bensahel 2015.
14Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat: Gemeinsamer Rahmen für die Abwehr hybrider Bedrohungen – eine Antwort der Europäischen Union; S. 1.
15Vgl. Bittner 2018, 178 ff.
16MCDC Countering Hybrid Warfare Project (2017): Understanding Hybrid Warfare; S. 8.


Der Beitrag ist erschienen in: SIRIUS - Zeitschrift für Strategische Analysen, Band 2, Heft 2, Seiten 118–125, ISSN (Online) 2510-2648, ISSN (Print) 2510-263X, DOI: https://doi.org/10.1515/sirius-2018-2002.

 

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