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Bernhard Weßels / Harald Schoen (Hrsg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2017

21.12.2021
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Autorenprofil
Prof. Dr. Eckhard Jesse
Wiesbaden, Springer VS 2021

Mit dem jüngsten Band von „Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2017“ setzen Bernhard Weßels und Harald Schoen eine traditionsreiche Reihe fort. Neben Spezifika der Wahl von 2017 wie dem zeitweiligen Hoch der SPD und ihrem jähen Fall werden übergreifende Themen wie die Wahlrechtsreform und der Zusammenhang von „Koalitionspräferenzen und Wahlentscheidung“ thematisiert. Rezensent Eckhard Jesse hebt hervor, dass Granden des Fachs und Nachwuchswissenschaftler*innen gleichermaßen zu Wort kommen, hätte sich aber flankierend zum dominanten quantitativen Ansatz weitere Zugriffe auf das Thema „Wahl“ gewünscht. (lz)

Eine Rezension von Eckhard Jesse

Seit der Bundestagswahl 1980 erscheint regelmäßig unter dem Haupttitel „Wahlen und Wähler“ und unter dem Untertitel „Analysen aus Anlass der Bundestagswahl“ ein einschlägiges Werk. Die Tradition der „blauen Bände“, lange herausgegeben von Max Kaase und Hans-Dieter Klingemann, findet nun für die Bundestagswahl 2017 eine Fortsetzung. Wie bereits beim Band für die Bundestagswahl 2013 (und bei dem für die Bundestagswahl 2009 mit Oscar W. Gabriel) verantworten die Politikwissenschaftler Bernard Weßels (Berlin) und Harald Schoen (Mannheim) die Herausgeberschaft. Anders als früher kam das Werk diesmal erst nach der nächsten Bundestagswahl heraus. Das ist im Zeitalter der Digitalisierung schwerlich zu verstehen und nimmt dem Sammelband einen Teil seiner Wirkung. Offenbar liegt das Versäumnis nicht an den Herausgebern, denn sie haben ihr Vorwort im Januar 2021 abgeschlossen.

Das Werk umfasst 24 Beiträge aus der Feder von 45 Autorinnen und Autoren. Unter ihnen befinden sich neben Nachwuchswissenschaftlern bekannte Namen wie Thorsten Faas (Berlin) und Rüdiger Schmitt-Beck (Mannheim), die einen Beitrag zur elektoralen Integrität der Bundestagswahl 2017 vorgelegt haben. Obwohl daran kein Zweifel besteht, so das überzeugende Ergebnis von unabhängigen Experten (Deutschland rangierte an sechster Stelle bei 167 berücksichtigten Ländern), können die Verfasser aufgrund einer repräsentativen Nachwahlstudie zeigen, dass etwa 25 Prozent der Bürgerinnen und Bürger mehr oder weniger negative Einschätzungen zur Qualität der Wahl abgegeben haben. Die Ursachen sehen sie wesentlich in der Unzufriedenheit mancher Bürger mit der Praxis der hiesigen Demokratie. Dazu gehören überproportional Wählerinnen und Wähler der AfD und ebenso Nichtwähler. Die nicht minder bekannten Politikwissenschaftler Thomas Bräuninger und Franz Urban Pappi, jeweils Mannheim, analysieren in einem methodisch anspruchsvollen Beitrag die Unsicherheit von Wählern bei der Wahrnehmung von Parteipositionen. Ein – nicht überraschendes – Ergebnis: Die Unsicherheit nimmt mit der Informiertheit der Wählerinnen und Wähler ab.

Im ersten Abschnitt („Analyse der Bundestagswahl 2017“) sind zehn Beiträge angesiedelt, im zweiten („Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2017“) 13 und im dritten („Internationale Trends“) deren zwei. Wer die Texte im ersten und zweiten Teil miteinander vergleicht, kann Zweifel an der Triftigkeit dieser Unterteilung anmelden. Denn ein Text über die Wahlbeteiligung der Deutschen mit Migrationshintergrund (von Sabrina J. Mayer, Achim Goerres und Dennis C. Spies) könnte ebenso im zweiten Teil stehen wie ein Text über die Wirkung des TV-Duells (von Jürgen Maier und Jennifer Bast) im ersten. Nicht rechtfertigen lässt sich in einem Reader zur Bundestagswahl 2017 die Aufnahme von Beiträgen zu jeweils einer Wahl in Ungarn (zu der Parlamentswahl von 2018; auf Englisch) und Österreich (zu der Nationalratswahl 2017; nicht zu der von 2019), ohne jeglichen Deutschlandbezug. Vielleicht wäre es hinfort hilfreich, die Texte durch die Herausgeber einordnend zu kommentieren, damit der Charakter der Beliebigkeit sich weniger einstellt.

Im kurzen Geleitwort ist anfangs von Besonderheiten der Wahl 2017 die Rede. Dazu zählt etwa das bis dahin schwächste Abschneiden der beiden Volksparteien (53,4 Prozent), das 2021 mit 49,8 Prozent noch unterboten wurde. Was nicht stimmt, ist die Behauptung, zum ersten Mal sei eine Partei rechts von der Union in den Bundestag eingezogen. Bei der ersten Bundestagswahl gelangte nicht nur die von Alfred Loritz geführte rechtslastige Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung in den Bundestag, sondern auch die im Kern rechtsextremistische Deutsche Rechtspartei. Die nationalkonservative Deutsche Partei, die nach den Bundestagswahlen 1949, 1953 und 1957 im Bundesparlament saß, war ebenfalls deutlich rechts von der Union angesiedelt. Dies gilt für die 1950er-Jahre partiell auch für die FDP.

Der instruktive Einleitungstext der Herausgeber betont, wie bereits im letzten Band, die hohe Volatilität der Wählerschaft, die „Konstanz des Wandels“ (8), hervorgerufen durch Kurzfristfaktoren. Weßels und Schoen wundern sich darüber, dass das Thema „Ausländer, Flüchtlinge, Asyl“ mit weitem Abstand an erster Stelle rangiert, wo doch 2017 die Zahl der Asylsuchenden gering ausgefallen war. Aber die massive Zuwanderung durch Flüchtlinge im Jahre 2015 wirkte nach. Nicht ganz zu Unrecht heißt es: „Die AfD bestimmte den Wahlkampf“ (14). Zu Recht spielt daher die AfD in einigen Beiträgen eine Rolle. So untersuchen Ina Bieber und Manuela S. Blumenberg das Problem, wie sich die Verunsicherung der Wählerschaft in der Migrationsfrage (innerhalb der Parteien, freilich nicht bei der AfD, gab es uneinheitliche Positionen) auf das Wahlverhalten ausgewirkt hat. Der AfD sei es gelungen, einen Teil der verunsicherten Wähler zu überzeugen.

Ulrich Rosar, Lena Masch, Frederick Springer und Markus Klein analysieren die Gründe für das zeitweilige Hoch der SPD unter ihrem Spitzenkandidaten Martin Schulz und das spätere Tief. Sie führen die erste Entwicklung neben dem hohen „Aufmerksamkeitseffekt“ (135) durch den zunächst relativ unbekannten sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten weithin auf eine Schwächephase Angela Merkels zurück und die zweite auf das Gegenteil. Die Volatilität des Wahlverhaltens kommt am besten wohl in der folgenden Aussage der Autorinnen und Autoren zum Ausdruck: „Ob die SPD bei der nächsten Bundestagswahl wirklich noch glaubhaft einen Kanzlerkandidaten oder eine Kanzlerkandidatin aufstellen kann, ist aus heutiger Sicht bei Sonntagsfrage-Ergebnissen von knapp über 10 % fraglich“ (136).

Zwei Beiträge sind schon deshalb höchst aufschlussreich, weil deren Gegenstand auch über die Bundestagswahl 2021 hinaus aktuell bleibt. Evelyn Bytzek (Koblenz-Landau) nimmt sich erneut des Themas „Koalitionspräferenzen und Wahlentscheidungen“ an. Ihre Leitfrage nach dem Einfluss von Koalitionspräferenzen auf das Wählervotum ist schon deshalb nicht leicht zu beantworten, da diese Koalitionspräferenzen im Vorfeld der Bundestagswahlen 2017 nur schwer auszumachen waren. Die Anhänger der Union wünschten sich eine schwarz-gelbe Koalition, die der FDP noch stärker eine solche, die der SPD am ehesten eine Große Koalition und die der Grünen ein rot-grün-rotes Bündnis. Die Autorin hätte darauf eingehen können, dass manche Wählerinnen und Wähler deshalb splitten, weil sie – irrigerweise – glauben, damit ihre Wunschkoalition herbeiführen zu können. Das Wahlrecht lässt eine solche Option jedoch nicht zu.

Joachim Behnke (Friedrichshafen) erörtert einmal mehr Lösungsvorschläge, um die Aufblähung des Bundestages zurückzudrängen. Zu Recht befürwortet er entschieden eine grundlegende Reform des Wahlrechts und ebenso zu Recht wendet er sich gegen unausgeglichene Überhangmandate, weil diese den Proporz zwischen den Parteien unterlaufen. Der wohl beste Kenner der Materie (elf der 26 im Literaturverzeichnis genannten Titel stammen von ihm) plädiert auch nicht für eine massive Reduktion der Direktmandate, sondern für eine Nichtvergabe der Direktmandate an diejenigen Wahlkreissieger mit den schlechtesten Erststimmenergebnissen. Aber ist dies der Wählerschaft, die für einen Kandidaten votiert, der gegebenenfalls kein Mandat erhält, überzeugend zu vermitteln? Wohl kaum!

Was der Transparenz und der Nachvollziehbarkeit des gesamten Werkes zugutekommt: Wie schon das letzte Mal finden sich Replikationsmaterialien auf der Internetpräsenz des Verlages. Wer die Texte Revue passieren lässt, stößt fast ausschließlich auf Beiträge aus der quantitativen empirischen Wahlforschung. Gewiss, sie tragen zu mancher neuen Erkenntnis bei, wiewohl sich zuweilen über deren Relevanz streiten lässt. Wäre es nicht sinnvoll, stärker Parteien- und Wahlforscher einzubeziehen, die andere Ansätze verfechten, etwa Frank Decker, Karl-Rudolf Korte, Sabine Kropp und Roland Sturm, um nur einige bekannte Namen zu nennen? Auf diese Weise ließe sich zum einen verdeutlichen, dass der quantitativen Forschung kein Alleinstellungsmerkmal zufällt. Zum anderen könnten stärker solche Aspekte in den Blick geraten, die sich für Quantifizierung weniger eignen.

Es versteht sich: „Wahlen und Wähler“ müssen – weiterhin unter der Ägide von Schoen und Weßels – fortgesetzt werden. Der Rezensent hat allerdings zwei Wünsche: Zum einen sollte der folgende Band rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl auf den Markt kommen. „Rechtzeitig“ meint: mindestens ein Jahr vor dem Wahlgang, damit die einschlägigen Analysen im Vorfeld der Wahl genutzt werden können. Zum anderen trüge der Verzicht auf „internationale Trends“ zu mehr Geschlossenheit bei. Niemandem, auch nicht den Verfassern, ist in einem Band über Bundestagswahlen mit Texten zu anderen Ländern gedient.

 

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