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Florian Meinel: Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus

13.05.2019
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Autorenprofil
Oliver Kannenberg, M.A.
München, C. H. Beck 2019

Vor nunmehr 70 Jahren wurde das Grundgesetz vom Parlamentarischen Rat verabschiedet. Nach neun Verhandlungsmonaten in Bonn stimmten vier Jahre nach Kriegsende die Abgeordneten mit 52 zu 14 Stimmen für die neue Verfassung der Bundesrepublik. Viel Lob wurde dem Grundgesetz seitdem zuteil. Nicht selten werden einzelne Aspekte oder gar die gesamte Verfassung als „Erfolgsgeschichte“ tituliert. Florian Meinel, Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Würzburg, erhebt dagegen in diesem Werk Einspruch.

Meinel argumentiert, dass es in der Ausgestaltung des Grundgesetzes nicht gelungen sei, zwei „Verfassungsschichten“ ineinander zu verklammern. Da wäre zum einen der „administrativ-föderale“ Verfassungsteil, der aufgrund des historisch gewachsenen Verwaltungsapparates in Deutschland eine besonders dominante Position gegenüber der zweiten – parlamentarischen – Verfassungsschicht einnehme. So wurde zwar die Position des Kanzlers besonders gestärkt, eine wirkliche Verschränkung zwischen Verwaltung und Parlament sei im Grundgesetz jedoch nicht zu finden. Diese Aufgabe hätten im Fortgang der bundesrepublikanischen Geschichte drei Vermittlungsinstitutionen übernommen: Die Volksparteien, das Bundesverfassungsgericht sowie das Bundeskanzleramt.

Von Volksparteien konnte zu Zeiten des Parlamentarischen Rats noch keine Rede sein. Welch bedeutenden Beitrag der Organisationsapparat der Parteien für die Konsolidierung des parlamentarischen Regierungssystems leisten sollte, war kurz nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes nicht abzusehen. Meinel identifiziert den Machtwechsel 1969 und die im Nachgang unter Helmut Kohl vollzogene Parteireform der Christdemokraten als entscheidenden Durchbruch für diesen Parteitypus. Der Beitrag der Volksparteien sollte sowohl inhaltlicher wie auch personeller Natur sein. Letzteres beschreibt Meinel anschaulich in seinem Unterkapitel „Lob der Parteipatronage“. Darin argumentiert er gerade gegen die von verschiedenen Seiten häufig kritisierten Karrierewege zwischen Parlament und Regierung. Seine Schlussfolgerung: „Je weniger Parteipatronage aus dem Parlament, desto weniger demokratische Rückkopplung der Verwaltung“. Umgekehrt leiste eine personelle Verzahnung folglich einen Beitrag zur notwendigen Verschränkung der beiden Verfassungsschichten.

Das Bundesverfassungsgericht war und ist wiederkehrend Gegenstand von Diskussionen um dessen Rolle im politischen Prozess. Die Selbst-Ausweitung der Zuständigkeiten habe sich vor dem Hintergrund zunehmender Großer Koalitionen vollzogen, die das Gericht zu einer Art juristischer Opposition habe werden lassen. Infolgedessen sei eine wachsende Formalisierung betrieben worden, die eine „kompetenzrechtliche Dissoziierung von Parlament und Regierung“ bewirke. Erkennbar sei dies an den Entscheidungen zu erweiterten Oppositions- und Informationsrechten sowie einer stärkeren Einbeziehung des Parlaments in europäische Angelegenheiten. An einem besonderen Bedeutungszuwachs kann sich ebenso das Bundeskanzleramt, als dritte Vermittlungsinstitution, erfreuen, stellt Meinel fest. Grund für die zunehmende Deklarierung von Problemlagen als „Chefsache“ sei nicht zuletzt die Notwendigkeit schnellen Handels, die sich durch die verkürzten Reaktionsräume internationaler Vernetzung ergeben hätte. Die Abstimmung zwischen zuständigen Ressortministern werde dadurch gezielt übergangen, einige der wenigen Ausnahmen stellte in den vergangenen Jahren das von Wolfgang Schäuble geführte Bundesfinanzministerium dar.

Somit liegt für Meinel der „Kern des deutschen Verfassungsproblems der Gegenwart“ in den verschiedengearteten Krisen der drei Vermittlungsinstitutionen. Die Volksparteien sind, wie vielfach aktuell geäußert, nur noch mit einigem Wohlwollen als Volksparteien zu bezeichnen und büßen infolge ihres Mitglieder- und Wählerschwundes einen entscheidenden Teil ihrer gesellschaftlichen Integrationsfunktion ein. Das Bundesverfassungsgericht hingegen scheint in seiner Position zwar durchaus gestärkt, die getroffenen Entscheidungen würden Parlament und Regierung verstärkt als gegeneinander operierende Institutionen verrechtlichen. In der diagnostizierten „Entgrenzung“ des Bundeskanzleramtes und dem darin tätigen Regierungsoberhaupt sieht Meinel gar die Gefahr einer Rückkehr der Bismarck‘schen Regierungsorganisation.

Die besondere Leistung des Autors liegt in der gelungenen Analyse des Zusammenspiels dieser drei Entwicklungsstränge innerhalb des Gesamtkomplexes des parlamentarischen Regierungssystems in Deutschland. Ein Augenmerk wird dabei auf die Kontrolle und Verantwortlichkeit der Regierung gelegt. Im Unterschied zum Parlamentarismus in Großbritannien identifiziert Meinel im Grundgesetz die fehlende individuelle Verantwortlichkeit der Minister vor dem Parlament als eines der grundlegenden Probleme zwischen regierungstragender Parlamentsmehrheit und Exekutive. Gleichsam beschäftigt sich Meinel im abschließenden Teil seiner Schrift mit einigen bekannten Vorschlägen, die eine vermeintliche „Renaissance des Parlamentarismus“ verheißen wollen. So bezeichnet er beispielsweise die Forderungen nach einer Minderheitsregierung, wie sie im Zuge der langwierigen Koalitionsverhandlungen 2017/2018 geäußert wurden, als „naive Hoffnung“ auf eine Belebung des parlamentarischen Betriebs.

Meinel gelingt es, in dem kompakten Werk von etwas über 200 Seiten seine Ausführungen nicht nur gehaltvoll, sondern auch sehr anschaulich darzulegen. Der Zuschnitt auf ein breites Publikum weiß durchaus zu gefallen, besteht darin doch die Möglichkeit, den Kenntnisstand über das Funktionieren und den Zustand des politischen Systems Deutschlands in nicht-wissenschaftliche Kreise zu erweitern. Mittels der Verbindung aus verfassungsrechtlicher und politikwissenschaftlicher Perspektive werden kenntnisreich die informellen Praktiken des politischen Prozesses erläutert. Wer auf konkrete Vorschläge Meinels zur Lösung der Krisen der Vermittlungsinstitutionen hofft, wird jedoch nicht fündig werden. Dafür gibt er durchaus zu erkennen, wie er zu gewissen Praktiken und Reformoptionen steht, kritisiert zudem den Hang der Rechtswissenschaft zur Aufrechterhaltung des Status quo und die fehlenden theoretischen Abhandlungen in der Parlamentarismusforschung.

In Gänze fällt das Fazit zu „Vertrauensfrage“ durchweg sehr positiv aus. Die Lektüre des Buches schärft einerseits den Blick auf die drei zentralen Vermittlungsinstitutionen des parlamentarischen Regierungssystem Deutschlands und kann andererseits dazu dienen, den Leser*innen ein tiefergehendes Verständnis für das Zusammenspiel von formalen und informellen Prozessen zu geben. Zurecht wird Meinel gegenwärtig für seine kluge Diagnose des heutigen Parlamentarismus von vielen Seiten gelobt. Ob die aufgezeigten Reformnotwendigkeiten auch in der Praxis Widerhall finden, bleibt dagegen (skeptisch) abzuwarten.

 

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