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Martin Schubarth

Verfassungsgerichtsbarkeit. Rechtsvergleichend – historisch – politologisch – soziologisch – rechtspolitisch, unter Einbezug der europäischen Gerichtshöfe

Bern: Stämpfli Verlag AG 2011; 95 S.; 30,50 €; ISBN 978-3-7272-8786-2
Vergleichende Arbeiten zur Verfassungsgerichtsbarkeit sind mit Ausnahme solcher zum US-Supreme Court im deutschsprachigen Raum eher selten. Schubarth, vormals Richter am Schweizerischen Bundesgericht, thematisiert nun die Bedingungen, unter denen Verfassungsgerichtsbarkeit entsteht, außerdem das Problem der „offenen Verfassung“ und die damit in „engem Zusammenhang stehende Frage, welcher Richtertyp [...] urteilt“ (3) – „Legalist oder Verfassungsinnovationist?“ (50) Dabei bezieht er – und das ist eine sehr interessante vergleichende Perspektive – ausdrücklich Staaten mit ein, die keine, kaum oder auch (ursprünglich) nur eingeschränkte Verfassungsgerichtsbarkeit institutionalisiert haben (insbesondere Großbritannien, die Niederlande, die skandinavischen Länder sowie die Schweiz, Frankreich und Belgien) beziehungsweise infolge politischer Krisen wieder abschafften oder einschränkten (in Österreich nach 1933, aber auch in Russland unter Putin). Aus schweizerischer Perspektive scheint ihm das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie/Gesetzgeber und Rechtsstaat/Gericht als zentral. Angesichts des neueren Siegeszugs der Verfassungsgerichtsbarkeit nach 1945 beziehungsweise in Mittel- und Osteuropa seit 1989 widerspricht er der aktuellen (wohl auf Kelsen zurückgehenden) These, dass diese ein unverzichtbarer Bestandteil moderner demokratischer Rechtsstaaten sei. Verfassungsgerichte entwickelten sich eher in revolutionären Umbrüchen (als Ausdruck des Misstrauens in den Gesetzgeber) und seien daher gerade nicht typisch für „Länder mit einer weitgehend kontinuierlichen Verfassungsentwicklung“. Zwar könnten sie in bestimmten Situationen hilfreich sein, doch wegen der Eigendynamik bleibe die „Gefahr des juristischen Staatsstreichs“ (93 f.), wenn sich Gerichte zum politischen Herrn der Verfassung machten; dies hält Schubarth vor allem mit Blick auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sogar für erfüllt. Das ist vielleicht in seiner Zuspitzung insgesamt ein wenig schmitttianisch, verweist aber auf das nach wie vor nicht gelöste Problem der zu weit ausgreifenden, höchstrichterlichen Selbstermächtigungen, wie wir sie zum Beispiel beim Bundesverfassungsgericht und Europäischen Gerichtshof beobachten können.
Robert Chr. van Ooyen (RVO)
Dr., ORR, Hochschullehrer für Staats- und Gesellschaftswissenschaften, Fachhochschule des Bundes Lübeck; Lehrbeauftragter am OSI der FU Berlin sowie am Masterstudiengang "Politik und Verfassung" der TU Dresden.
Rubrizierung: 2.21 | 5.41 Empfohlene Zitierweise: Robert Chr. van Ooyen, Rezension zu: Martin Schubarth: Verfassungsgerichtsbarkeit. Bern: 2011, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/34156-verfassungsgerichtsbarkeit_40971, veröffentlicht am 15.09.2011. Buch-Nr.: 40971 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken